Ist es der zärtlich-raue Tonfall, die mit ironischen Noten durchbrochene Moll-Stimmung, der synkopische Rhythmus? Von der ersten Zeile an wird der Leser in Jovan Nikolics Universum hineingezogen. Ein Universum, in dem nichts Bestand hat. Gleich Wolkenfetzen verwandelt sich ein Bild ins andere: Träume greifen in die Wirklichkeit ein, rationale Vernunft und archaische Magie geraten einander in die Haare, Sartre misst sich an Superman, Tote kommunizieren mit Lebenden, belanglose Gegenstände mutieren zu unberechenbaren Lebewesen, und hinter der Trauer blitzt hämischer (Aber-)Witz.
Jovan Nikolic nimmt uns auf eine Reise mit, die aus einer engen Romasiedlung zunächst in die »weiße Stadt« Belgrad führt, dann weiter »gen Westen«, wo es kein Ankommen gibt. So zieht es ihn in Gedanken immer wieder zum Ausgangspunkt zurück – der Kindheit im baufälligen Haus seiner Eltern, in dessen Garten die Toten unterm Pflaumenbaum tanzen.
Erzählende Gedichte und musikalisch komponierte Prosapoeme treten miteinander in Dialog; beide legen Zeugnis von einer unverwechselbaren literarischen Stimme ab.

Gedichte und Prosa

Man kennt seinen Song in Kusturicas ›Schwarze Katze Weißer Kater‹. Als starke literarische Stimme ist Jovan Nikolic bei uns noch zu entdecken.

Jovan Nikolic, geboren 1955 in einer Romasiedlung bei Belgrad. Ausbildung als Maschinenbautechniker. Erste Gedichtveröffentlichung 1977. Es folgen zahlreiche Lyrikbände, Theaterstücke, Libretti und politische Satiren, mit denen Nikolic sich bald als vielbeachteter Nachwuchsautor seines Landes profiliert. Seine fortgesetzte Kritik an dem, was er als ›großserbische Erektion‹ bezeichnet, veranlasst ihn 1999 zur Emigration. Derzeit lebt Jovan Nikolic in Köln. Seit 2002 ist er stellvertretender Vorsitzender des Internationalen Romani Schriftstellerverbands IRWA. Im deutschsprachigen Raum ist er bisher vor allem als Koautor des (vom Romatheater Pralipe uraufgeführten) Dramas ›Kosovo mon amour‹ sowie als Songtexter für den Kusturica-Film ›Schwarze Katze Weißer Kater‹ bekannt geworden.

... Die Grenze zwischen Realität und Traum ist in dieser Textwelt durchlässig, vielleicht sogar verschwunden. Alltägliche Szenerien verschieben sich plötzlich ins Groteske, werden heimgesucht von Bildern und Gestalten der Vergangenheit. Das Schreiben selbst wird hier zum vielleicht einzigen Mittel der Selbstvergewisserung - in einer Welt, die nicht zur Ruhe kommen kann und möchte ... (Jan Valk, Kölnmagazin)

Vorteil des Lesens

Während eines Großteils meines Lebens waren die Waschzettel mit den therapeutischen Indikationen und der Gebrauchsanweisung zur Tabletteneinnahme mein bevorzugter Lesestoff. Es handelte sich dabei nicht nur um die Neugier des Tablettomanen, sondern, ohne Übertreibung, auch um einen erzieherischen Akt. Es war ein Bedürfnis zu verstehen, um die eigene Persönlichkeit vor dem unbekannten, gepressten Pulver, das auf meinen Zustand einwirken sollte, zu bewahren.
Denn erst wenn ich lese, was dieser bittere Balsam, diese chemische Glückspille, dieser weiße Knopf ohne Loch in meinem Organismus auslösen und auf welche Weise er mein Leben bessern will, beginne ich meinen Körper vorzubereiten, mache ich es ihm a priori leichter, sich über die Suggestion des Gelesenen mit dem Übel anzulegen.
So, meine ich, hat sich jeder gewissenhafte Mensch in Verantwortung vor seiner Gesundheit zu verhalten!
Alles, was ich in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften lese, schreibe ich in Hefte. So erkenne ich, wann immer nötig, anderntags mit Leichtigkeit das Problem und kann mich in jeder Situation an die Anweisungen weiser Zitate halten.
Denn das Leben ist dem Leben gefährlich, es enthält eine große Menge an Kontraindikationen. Dazu die Menschheit, zahlreich und vielgestaltig. Und insofern unzureichend bekannt.
Niemand hat die gültige Formel für eine Arznei gegen die Enge der Existenz bisher gefunden, dafür aber stehen große und dicke Bücher, Enzyklopädien, Lexika, Atlanten und Almanache bereit, in denen jeder Interessierte eine Anleitung zum Gebrauch des eigenen Ich finden kann.
Es reicht, den Vor- und Zunamen eines bestimmten Phänomens zu kennen, seine Form, Struktur und Dimension, und nichts ist unmöglich.
Darin nämlich besteht die Kunst, das rechte Verhältnis zur real existierenden Welt herzustellen. Ohne die naive Ambition, das eigene, qualvoll erworbene Geheimnis meines Lebens preisgeben zu wollen, bewegt mich allein die Absicht, auf Nutzen und Vorzug des Lesens zu verweisen.


Magie des Klangs

Dem verstorbenen Vater
Es ist kein Brot im Haus.
Vater macht sich aus dem Staub,
küsst sein Saxophon und bläst hinein.
Beim ersten Ton
lassen die Rußbärte den Hammer fallen,
unterbrechen die Kinder ihr Spiel, flüchten die Frauen
ins Haus, weinen sich aus.

Hypnotisiert schleichen sich Hund und Katze an,
schnuppern an ihm
und die Vögel spielen verrückt, greifen die Terz
und das Gras im Hof fängt zu wachsen an
und die Lilie blüht auf

und weggeblasen unsere Armut …