Es sind kleine, in sich geschlossene Prosatexte: eingefangene Augen-Blicke, Momentaufnahmen einer Kindheit im Zigeunerdorf. Wie leichtfüßige Musikstücke kommen sie daher – Bagatellen, Impromptus, Humoresken. Sie entfalten einen bald melancholischen, bald skurril-surrealen Zauber und klingen fast immer in einem überraschenden, manchmal verstörenden Schlussakkord aus. Jedes für sich, den Lyriker verratend, ein Stück aufs äußerste verdichteter Erinnerung. Aneinander gereiht erzählen sie vom turbulenten Leben in einer schäbigen Romasiedlung: von Dragiša, dem Saxophon spielenden Vater, vom Großvater, der im Suff deutsche Kommandos brüllt, von der mit Geistern kommunizierenden Großmutter, der Tante, die sich bei Bedarf imaginäre Krankheiten zulegt, und von der Mutter, die all das im Griff zu halten versucht; auch von Jacky, dem Hund, von geköpften Hühnern oder jenem Lamm, in dessen Augen sich der Junge wiedererkennt, bevor es am Georgstag auf den Tisch kommt. Von diesem etwas eigentümlichen Jungen vor allem, der staunend die Welt um sich und sich selbst in ihr beobachtet.

Augen-Blicke einer Kindheit im Zigeunerdorf. Bilder voll eigentümlicher Magie und poetischer Kraft.

Jovan Nikolic, geboren 1955 in einer Zigeunersiedlung bei Cacak (Serbien), ist einer der bedeutendsten Vertreter zeitgenössischer Romaliteratur. Neben zahlreichen Lyrikbänden veröffentlichte er auch Theaterstücke und satirische Texte in serbokroatischer Sprache. Seit seiner Emigration im Jahr 1999 lebt er in Deutschland, zur Zeit in Köln. Stipendien der Heinrich-Böll-Stiftung, des deutschen PEN und des Cultural City Network, Graz. In deutscher Sprache: Zimmer mit rad. Gedichte und Prosa (Drava 2004).

. ..Jetzt ist dieser zu den wichtigsten Vertretern der Roma-Literatur zählende Schriftsteller in einem Buch zu entdecken, das mit wenigen Strichen eine ganze Welt zeichnet. Die Texte sind kurz und von großer atmosphärischer Dichte. Wie in einem Kaleidoskop schieben sich die Bilder ineinander und ergeben so ein lebenspralles Ganzes: den Roman der Kindheit ...(Paul Jandl, NZZ)

"Wäre Jovan Nikolic Maler, würden aus wenigen Pinselstrichen Skizzen entstehen, die meisterhaft eine ganze Welt erschaffen und doch dem Leser einen zugleich definierten und freien Raum zum Ausmalen lassen." (Peter Pauls, Grußwort zum Buch für die Stadt).

"Wie kleine Edelsteine, mal funkelnd, mal scharf geschliffen und von verletztender Härte, so wirken die kurzen Texte, die Jovan Nikolic in " Weißer Rabe, schwarzes Lamm" an der Grenze von Traum, Erinnerung und Realität über seine Kindheit geschrieben hat" (www.ksta.de)

DER SPIEGEL
Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie etwas in ihm vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, zu brennen beginnt. Er ahnt, dass dieses Wort, voll einer unbekannten Gefahr, einen verhängnisvollen Einfluss nehmen wird auf sein künftiges Leben; dass es, den Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten, nach ihm schnappen und sein Herz mit den scharfen Zähnen des Spotts und der Verachtung heimsuchen wird.
Seither bleibt er immer ein wenig länger vor dem Spiegel stehen; er wartet, dass dort, im Abbild seiner Gestalt, die Bedeutung dieses Worts aufscheint und sich ihm entdeckt. Zugleich verspürt er die große Angst, er werde dort etwas Verhängnisvolles und Schmerzliches sehen, das die Seele für alle Zeit davontragen könne, so dass er nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher jener dort steht, der ihn mit den eigenen Augen ansieht und den Fehler sucht.
HÜHNER AUF DEM FAHRRAD
Während des Krieges war der Vater Kriegsgefangener in Deutschland. In einem Arbeitslager. Von damals ist ihm die Gewohnheit geblieben, trockenes Brot zu essen. Er mag es gern einstippen. Und immer schleppt er mehr Lebensmittel nach Hause als notwendig.
Macht nichts, und wenn schon! Damit was da ist. Man weiß nie …
Eines Tages, als er mit seinem Fahrrad vom Markt zurückkehrte, hatte er sechs zusammengebundene Hühner an die Lenkstange gehängt. Nackthalsige. Jeweils drei an eine Seite des Lenkers. Er trat in die Pedale, die Aufschläge an seinen Hosen hatte er mit Wäscheklammern befestigt. Zufrieden pfiff er vor sich hin.
Die Hühner hingen einen Teil der Fahrt kopfüber nach unten, bis ihnen das Blut in die Köpfe stieg. Da begannen sie fieberhaft mit den Flügeln zu schlagen und aufzufliegen.
Und so reitet der Vater die Kneza Miloša entlang auf seinem Fahrrad, dass die Federn fliegen, gezogen von einem Bukett aus Flügeln. Es sieht aus, als würde er jeden Augenblick aufsteigen und über den Häusern der Zigeuner fliegen, irgendwo fern über allen Ängsten, jedem Ungemach und dem Hunger davon …