Valerie wohnt als Kostgängerin bei ihrer Tante in Wien. Sie verliebt sich zum Entsetzen der Familie in einen »Roten«, wird in ihrer Kammer gefangen gehalten, legt Feuer … Der Anfang einer Geschichte, die in der berüchtigten Anstalt Hartheim endet – mit der »Tötung lebensunwerten Lebens«, wie es im nationalsozialistischen Amtsjargon hieß.
Eine Geschichte unter vielen, die von den Angehörigen unter einem Berg von Scham und Schweigen begraben wurden. Auch in der Familie des Autors. Mit »Valerie« unternimmt es Robert Kraner, dem Schicksal seiner getöteten Großtante Therese Weber nachzugehen, sie in Erinnerung zu rufen, ihr in knappen, eindringlichen Bildern ein Gesicht und eine Geschichte zurückzugeben.
Parallel dazu entfaltet sich ein Metatext, der davon erzählt, wie die zufällige Begegnung mit einem geistig verwirrten Mann zum Impuls wird, sich mit der eigenen, verdrängten Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Den dritten Teil des Buches bilden Dokumente, Zeugnisse und Gerichtsprotokolle, auf die der Autor bei seiner Spurensuche gestoßen ist: Dokumente des Schreckens über jene Tötungsmaschinerie, die mit der irreführenden Bezeichnung Euthanasie versehen wurde.

Feuer, Asche, Ruß in Hartheim

Robert Kraner, geboren 1958 in Wien und dort aufgewachsen. Landwirtschaftsausbildung, verschiedene Berufe, u. a. Landwirtschaftlicher Adjunkt, Lehrer, Leiter eines Obdachlosenhauses, Umweltberater. Lebt im niederösterreichischen Waldviertel, wo er zusammen mit Robert Schindel 2003 die »schreibwerkstatt langschlag wurzelhof« gründete. 2010 Organisation der ersten grenzüberschreitenden Schreibwerkstatt in Nové Hrady mit Studentinnen und Studenten beider Länder. Seit seiner Jugend schreibt er Gedichte und Kurzprosa. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und bei Lesungen.

Sie schläft ein und träumt. Zwei Pferde ziehen einen Schlitten. Der Schlitten hält vor einem Haus. Zwei Kinder kommen heraus und Peter. Peter sieht jung aus. Sie winkt mit beiden Händen und läuft auf das Haus zu. Will laufen, aber der Schnee gibt nach, sie sinkt ein, tiefer und tiefer. Sie steht bis zum Bauch im Schnee. Da hat eines der Kinder sie gesehen, es winkt und ruft einen Namen. Es ist nicht ihr Name. Sie möchte noch einen Schritt tun und kann nicht. Da denkt sie an die Streichhölzer in ihrem Strumpfband. Sie greift danach, kann sie aber nicht erreichen. Die Streichhölzer entzünden sich. Es wird ihr warm um den Bauch. Heiß. Der Schnee um sie herum beginnt zu schmelzen. Sie hat einen Feuerreifen um den Bauch. Ihr Haarberg brennt und sie spürt das Tiefe, Weiche. Sie versucht das Feuer mit ihren Händen zu ersticken. Sie steht bis zu den Knöcheln in fließendem Wasser. Flammen züngeln aus ihrem Bauch. Es brennt innen. Sie will sich selbst beim Namen rufen. Es fällt ihr keiner ein. Der Schnee ist vollkommen geschmolzen, sie steht im Wasser und kann sich nicht bewegen. Sie will ihren Namen rufen. Sie will sich niedersetzen. Ihre Knie geben nicht nach. Unten ist sie nackt. Oben hat sie die Reste des angebrannten weißen Nachthemdes. Sie sucht etwas, findet nichts. Valerie wacht auf und hat einen trockenen Mund. Zeit vergeht. Valerie schlägt einer anderen den Kaffee aus der Hand und bekommt das Hemd. Valerie schlägt eine Glasscheibe ein und wohnt danach in einem Gitterbett. Sie ist brav und darf heraus. Sie schweigt auf alle Fragen. Als ihre Füße jucken, steckt sie diese ins Klosett. Tage vergehen. Nächte. Valerie antwortet nicht. Valerie fragt nicht. Sie bekommt Salbe auf die Füße.