Sie ist brüchig geworden, die ›Gnade der späten Geburt‹. Das muss auch Johanna erkennen, die in Norwegen lebt. Ein gutes Leben eigentlich, mit Kindern, Mann und Job – wäre da nicht ein Fleck in ihrer Biographie, der im Grunde keiner ist. Was kann Johanna schließlich dafür, dass sie in Mauthausen geboren wurde? Sie hat keine Schuldgefühle, und doch antwortet sie auf die Fragen ihrer norwegischen Freunde nach ihrer Herkunft immer wieder so ungeschickt und ausweichend, dass sie am Ende »gestehen« muss, in Mauthausen geboren zu sein. Und jedesmal spürt sie das Entsetzen der Freunde, ihr unmerkliches Abrücken, die nicht gestellten Fragen.
Immer mehr sieht sich Johanna von ihrer Biographie eingekreist, begibt sich nun selbst auf die Suche nach verborgenen Hinweisen, denen sie bislang keine Bedeutung zugemessen hat: Die Kleinstadtidylle in einer kleinbürgerlichen Welt, die Sonntagsausflüge zum »Lager«, die Banalisierung des Unfassbaren, das Nicht-darüber-Reden, die zufällig mitgelauschten Gespräche – einer nach dem anderen fügen sich die Erinnerungssplitter zu einer Indizienkette zusammen, die sich wie eine Schlinge um ihren Hals legt …
Magdalena Agdesteins Roman ist der Generation der Nachgeborenen gewidmet. All jenen, die sich vor dem ausgeschlagenen Erbe der Geschichte in Sicherheit wähnen. Die leise, eindringliche Sprache ist es, die uns zwingt, ihr zuzuhören.

Roman

Geboren in Mauthausen. Und irgendwann begreift Johanna, dass sie davon nicht loskommt …

Magdalena Agdestein, geboren 1952 in Mauthausen, Oberösterreich. Studium der Germanistik und Slawistik in Salzburg. Lebt seit 1978 in Norwegen.

Magdalena Agdestein verflicht in ihrem Roman über eine Nachkriegskindheit Autobiographisches mit Fiktivem, sie entwirft Bilder über ein Mauthausen, in dem das Massenverichtungslager der NS-Zeit im Alltagsleben höchstens als Touristenattraktion zur Kenntnis genommen wird. (Traude Korosa, www.literaturhaus.at)

„Gibt es sie tatsächlich, die Gnade der späten Geburt? Diese Frage zu beantworten sieht sich Johanna gedrängt, die in Norwegen lebt. Denn immer wieder trifft sie auf einen wunden Punkt in ihrer Biographie, den sie im Grunde nicht wahrhaben will: Was kann sie schließlich dafür, dass sie in Mauthausen, von 1939 bis 1945 Standort eines nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers, geboren wurde?“ (Jutta Fenk-Esterbauer, FAZ)
„... daraus ist ein Buch entstanden, das in mehreren Anläufen den Versuch unternimmt, Erinnerung zu ordnen, um daraus ein Bild zu entwickeln, das der Harmlosigkeit ländlicher Geborgenheit den Garaus macht. Ein Buch gegen den faulen, bequemen Frieden.“ (Salzburger Nachrichten)
„Und es war, so ist zu vermuten, eine zähe Arbeit am Stoff, ehe sie den richtigen Ton des Erzählens fand: ruhig, eindringlich, wägend, plötzlich erzitternd, dann wieder zurückweichend – eine Ich-Bändigung.“ (Irmtraud Gutschke, Neues Deutschland)
„Agdestein gelingt es, den Fluch des Erinnerns in Bilder zu fassen.“ (Robert Streibel, Die Furche)
„... ein detailliertes, präzises und in seiner Unerträglichkeit überwältigendes Bild nationalkonservativer Selbstgerechtigkeit.“ (Martin Droschke, Falter) „... ein engagierter, längst überfälliger Beitrag zur Bewusstwerdung der weit in die Jetztzeit reichenden Folgen der österreichischen Nazivergangenheit.“ (Vorarlberger Nachrichten)
„... ein ernstes und zugleich hinreißendes Buch über kindliches Begreifen. Über Alltägliches und Unfassbares, das manchmal ein- und dasselbe ist. Und warum sie dem Vater die entscheidende Frage nie gestellt hat.“ (Wirtschaftsblatt)
„Eine beklemmend eindringliche Geschichte, leise und mit viel sprachlichem Feingefühl erzählt.“ (Neues Volksblatt)

Manchmal kniete eine Frau in der Brandung und winkte sie zu sich, eindringlich, als müsse sie ihr etwas Wichtiges zeigen, und dann – sie hatte keine Zeit zu verlieren – wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie streckt ihre Hände aus nach Steinen, die die Brandung ans Ufer geschwemmt hat. Sie greift nach ihnen, lässt sie durch die Finger gleiten, einen nach dem anderen, betrachtet sie eingehend, dreht und wendet sie nach allen Seiten, um sie dann, scheinbar einer bestimmten Ordnung folgend, ans Ufer zu legen, Stein für Stein, wo sich Ansätze eines hügeligen Reliefs abzuzeichnen beginnen.
– Als ich näher komme, sagte sie in den Sternenhimmel der Therapeutin, sehe ich, dass ihre Füße und Knie, ja auch die Hände, zerschunden sind von der nicht enden wollenden Arbeit. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn, und ihre Bewegungen werden immer heftiger. Jetzt sehe ich, dass sie goldenes Haar hat, aber es hängt ihr in schweißdurchtränkten Strähnen herab, und ihre Knie sind wund, und die Füße bluten. Sie heißt Margarete, und sie will, dass ich ihr helfe, die Steine zu sortieren, die das Meer angeschwemmt hat. Bald sind auch meine Hände und Knie wund und zerschunden. Auch mir treibt die Sisyphusarbeit den Schweiß auf die Stirn. Stein für Stein, Stunde um Stunde.