Die Erzählung "Milan in Milena "aus dem Jahr 1913, geschrieben in melodischer, rhythmisierter Form, gilt als später Höhepunkt von Cankars symbolistischer Prosa. Im Grunde besteht sie aus zwei parallelen, nicht miteinander verknüpften Erzählsträngen und weist thematische Bezüge zu den drei Erzählungen aus Wille und Kraft auf. Milan und Milena sind zwei aus dem Rahmen fallende Charaktere, die im gewöhnlichen Leben keinerlei Halt finden und zwischen den Extremen der spirituellen Vergeistigung und deren blasphemischer Pervertierung pendeln. Der offen erotomanische Zug dieser Erzählung, die Cankar im Untertitel »Ein Liebesmärchen« nennt, die Vielzahl sexueller Anspielungen und Symbole machen sie auch zu einem eigenwilligen Beispiel slowenischer erotischer Prosa der Vorkriegszeit.
Um Wille und Kraft drehen sich die anderen drei Erzählungen, die Ivan Cankar 1911 veröffentlichte. Anhand dreier Lebensgeschichten erzählt Cankar schlaglichtartig von der Suche nach etwas Absolutem und vom tragischen Scheitern an realitätsfernen Sinnkonstruktionen. In ihrer Beispielhaftigkeit können diese Geschichten vom Ende einer Epoche als Buch über eine Generation gelesen werden, deren Wille und Ehrgeiz in keinem Verhältnis zu ihrem Tun und ihren Fähigkeiten stehen. Die existenziellen Fragen, die Cankar anhand der Polaritäten zwischen aktivem Willen und passiver Ohnmacht, zwischen Vollkommenheitsanspruch und Durchschnittlichkeit, zwischen metaphysischem Streben und materieller Realität aufwirft, zeigen die Orientierungslosigkeit des Menschen in der modernen Welt und verweisen auch auf die inhumanen Züge einer nach Absolutheit strebenden Idealität.

Erzählungen

Geschichten vom Ende einer Epoche. Ein eigenwilliges Beispiel slowenischer erotischer Prosa der Vorkriegszeit, zerrissen zwischen der spirituellen Vergeistigung und deren blasphemischer Pervertierung.

Ivan Cankar (1876–1918) lebte als freier Schriftsteller in Slowenien und Wien-Ottakring. Er ist der bedeutendste Vertreter der slowenischen Moderne. Sein Gesamtwerk umfasst 30 Bände.

Jakob Jarebicar war bis zu seinem vierzehnten Jahr dauernd krank. Jeden Winter versahen sie ihn mit den Sakramenten, im Frühjahr erholte er sich dann wieder. Er war ein zarter, schwacher Knabe mit einem langen, zu früh eingefallenen Gesicht, sein Blick aber war lebendig und unruhig. Obwohl er im Winter nicht zur Schule ging und im Frühling auch an verregneten Tagen nicht, war er der Beste. Die Kameraden verachteten und hauten ihn, weil die Lehrer bei jeder Gelegenheit und Ungelegenheit auf ihn zeigten: »Schaut her, der Arme ist dauernd krank, er kann nicht einmal in die Schule, und ist besser als ihr alle, ihr nichtsnutzigen Faulpelze!«
Als er mit der Schule fertig war, blieb er beim Vater, einem Steinmetz, weil sämtliche Paten erkannten, daß er künstlerisch sehr begabt war. Schon mit dreizehn knetete er aus Ton ein Porträt seines Vaters. Keine Linie zeugte von einer furchtsamen Kinderhand oder gar von kindlichem Ungestüm. Wer dieses Porträt betrachtete, sagte: »Das hat ein erfahrener Arbeiter gemacht, ein ernster Mensch, der sich jede Linie überlegt und auf kein Haar, keine Falte, Furche und Warze vergessen hat!« Die Verwandten, Paten und Bekannten kamen, um das Kunstwerk des dreizehnjährigen Meisters zu bewundern und zu rühmen. »Wenn er nur gesund wäre!« seufzte die Mutter.
Jakob schwieg zu solchem Ruhm und Lob; sie glaubten fast, es sei ihm zuwider. Er arbeitete pausenlos; wenn er im Schlaf redete, war es über die Arbeit. »Welche Lehren und welchen Rat könnte ich dir noch geben?« sagte der Vater. »Du gib mir Lehren und Rat!« – Es war aber seltsam, daß Jakob nie froh bei der Arbeit war; kein Lächeln kam ihm über die Lippen, geschweige, daß er gepfiffen oder gesungen hätte. Er machte eine finstere und ernste Miene, ein freundliches Wort quittierte er schroff. Er hatte keine Kameraden, schloß nie Bruderschaft, sogar daheim war er halb ein Fremder. Mutter und Vater bedienten ihn, er aber nahm diese Liebe an wie mit blinden Augen, ganz kalt und stumm.