Virgilio Giotti ist eine der interessantesten Gestalten der Triestiner Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein dichterisches Werk hat in Italien bei zeitgenössischen Dichtern und bei der Literaturkritik ein bemerkenswertes und positives Echo gefunden, außerhalb Italiens ist es unbekannt geblieben. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass Giotti einen Großteil seines Werks im Dialekt geschrieben hat.
Giotti wagte mit seinen in triestino geschriebenen Texten den Schritt vom »Komischen« der herkömmlichen Dialektdichtung zum »Sublimen«, das üblicherweise der hochsprachlichen Literatur vorbehalten ist. Er erarbeitete sich eine höchst persönliche, raffinierte und rational gefilterte Sprache, der nichts mehr volkstümlich Mundartliches anhaftet. In Giottis Gedichten lebt Triest: Triest als fantasma poetico (Pasolini) mit seinen Menschen, seinem Volksleben, den Vororten, dem Hafen, den Gassen, den kleinen Bars und Läden, mit seinem mar (Meer) und seinem ziel (Himmel), seinen Farben und Schatten …
Giottis Werk gliedert sich in vier Abschnitte, die den Sammlungen seiner Gedichte entsprechen: Piccolo canzoniere in dialetto triestino, Caprizzi, canzonete e storie, Colori, Sera und Versi. Von Sammlung zu Sammlung verlieren die für Giotti charakteristischen Farben allmählich ihre Leuchtkraft, verblassen, verlöschen … Und es bleibt in den letzten Texten nichts als der schlichte, verhaltene Grundton des Leids, die gelassene Verzweiflung des alten Mannes. Das Buch enthält außerdem seine Tagebuchaufzeichnungen Appunti inutili (Unnötige Notizen), die 1959 posthum erschienen sind. In einer dieser Notizen (6. 8. 1947) schrieb Giotti: »Wie schön wäre ein schönes Haus, ein Garten, sauber, ganz still, frisch; und dort denken und schreiben. Etwas, das ich nie gehabt habe und nie haben werde. Und wenn ich es heute plötzlich hätte, wäre mein Unglück um kein Gran geringer.«

51 Gedichte und ein Tagebuch

»Wie schön wäre ein schönes Haus, ein Garten, sauber, ganz still, frisch; und dort denken und schreiben.«

Virgilio Giotti, geb. 1885 in Triest als Virgilio Schönbeck. Vater Österreicher, Mutter Italienerin aus dem Veneto (deren Namen Ghiotto verwendete der Dichter für sein Pseudonym). 1907 Übersiedlung nach Florenz, um dem österreichischen?Militärdienst zu entgehen. Veröffentlicht seinen ersten Gedichtband Piccolo canzoniere in dialetto triestino (1914). Lernt seine spätere Frau, eine Russin aus Moskau, kennen. 1919 Rückkehr der Familie mit drei Kindern nach Triest. Verkehrt in den Kreisen von Umberto Saba, Italo Svevo, Scipio Slataper, Giorgio Voghera, Bobi Bazlen, Biago Marin, Giani Stuparich. Arbeitete als Handlungsreisender, Zeitungs- und Buchhändler, später als Spitalsbediensteter.
Saba veröffentlicht 1920 Giottis nicht in triestino geschriebenen Gedichtband Il?mio cuore e la mia casa. Weitere Werke: Caprizzi, Canzonete e Stòrie (1928), Colori (1941), Sera (1946), Versi (1953) Appunti inutili (1946–1955) (1959).
Giotti starb 1957 kurz nach dem Tod seines Freundes Umberto Saba. Erst 1986 erschien die kritische Gesamtausgabe seiner Werke: Opere. Colori – Altre poesie – Prose.
Hans Raimund, geb. 1945 in Petzelsdorf bei Purgstall an der Erlauf. Schriftsteller und Übersetzer. 1984 bis 1997 Lehrer in Duino bei Triest am United World College of the Adriatic. Veröffentlichte mehr als ein Dutzend Bücher mit Gedichten, Prosa und Essays sowie zahlreiche Übersetzungen.

Die wunderbarste, möglicherweise bedeutendste, vor allem aber aufgrund ihrer universellen Aussagekraft mit Sicherheit nachhaltigste literarische Entdeckung, die im Zuge des kulturellen Aufschwungs von Triest für den deutschen Leser dringend noch zu machen war, darf sich der kleine Klagenfurter Drava-Verlag auf seine Fahnen schreiben, der für seine besondere Zielsetzung, vor allem Literatur der slowenischen Minderheit in Kärnten sowie der Nachbarregionen ein qualifiziertes Forum zu bieten, eine überaus passende Namenspatin mit dem diese Länder durchströmenden Fluss Drau/Drava gefunden hat (Florian Hunger, Psychosemitischer Buchblog http://psychosemit.blogspot.co.at/)

Der Holunder
In diesem Winkel riecht es nach?Holunder:
Geruch von damals, da ich Kind?war.
In unserem Garten, oben,
so ganz weit weg vom Haus, da war ein Wald:
ein Holunderwald.
Drei Bäume, die im Mai, mitten in dem Grün,
diese großen, breiten
weißen Blüten öffneten.
Darunter, zwischen den Stämmen, war mein Wald;
und hinten, unterhalb der Mauer, waren
meine Felder mit dem Haus, dem Brunnen
und einem Meer, über das ich manchmal
mit geschlossenen Füßen sprang,
auf dem ich aber auch mit einem Segelboot herumfuhr,
mit Segel und mit Klüver, von
einem Ufer hin zum andern:
vom Haus zur Stadt, zur Werft gegenüber.
Es vergingen schöne Jahre, schöne Zeiten!
Und doch jetzt hier, bei dem Geruch, den ich da rieche,
bei all den düsteren Gedanken, da fällt es mir schon ein,
um mich herum zu schauen,
ob das da meine Felder sind und das mein Brunnen,
mein Boot, mein Meer:
und dieser Gartenwinkel
wird für mich wie der von einst,
groß, mit dem Himmel oben drüber,
der kreist, und alles rundum
trifft sich mit der Erde und mit meinem Meer.

Meinen toten Söhnen
Schatten meiner Söhne,
bevor auch ich verschwinde,
bleiben eine Weile wir
ein Mal noch zusammen,
plaudern wir und lachen wir.

Wenn ihr geweint habt, dann weint
jetzt nicht mehr. Wir trocknen
alle uns die Augen. Geht,
seid lieb zu eurer Mutter.
Weinen nützt nichts.

So viele, viele sind gestorben;
und Väter, Mütter, Kinder
haben geweint und weinen.
Das passiert auf dieser Welt:
es passiert, ist immer schon passiert.

Wenn ich euch nicht alles geben
konnte, was ich tief im Herzen
so sehr wünschte, so vergebt mir!
Für das Gute, welches ich von euch
gehabt hab, dafür danke ich euch

jetzt, so kommt, damit wir
noch ein Mal eine Weile
beisammen sind, wie
in unsren schönen Jahren
miteinander plaudern, lachen.