Vor zehn Jahren trat unter dem Namen Club 8 eine Gruppe junger Autoren aus der moldawischen Stadt Iasi mit dem Vorsatz an, einen frischen Ton in die rumänische Literatur hineinzutragen und gegen den von Bukarest dominierten Literaturbetrieb aufzubegehren. Einer ihrer Wortführer, dessen Schreiben auch außerhalb des Landes auf immer größeres Interesse stößt, ist Dan Lungu.
In seiner Kurzprosa-Sammlung Klasse Typen treten uns meist Männer und Frauen mittleren Alters entgegen. Den wilden Jugendjahren, in denen sie der Trostlosigkeit des Ceausescu-Sozialismus mit anarchischem Nonsense und Alkoholexzessen getrotzt haben, sind sie entwachsen, aller Wende-Illusionen beraubt. Vom Leben versehrt, plagen sie sich mit den Auswirkungen eines Protokapitalismus ab, der nur zwei Sorten von Menschen unterscheidet: Gewinner und Versager. Ihre Referenzen beziehen diese Kumpanen von einst aus der Welt der Comics und Telenovellas, was sie von sich geben, ist trivial, witzig, großmäulig, vulgär. Sie reden unentwegt, einer mit dem anderen, mit sich selbst oder gegen eine Wand. Als könnten sie, indem sie den Redestrom nicht abreißen lassen, die Kälte und Leere bannen, die sie umgibt und von innen auszuhöhlen droht. Und auf einmal werden sie uns fast sympathisch, diese launischen Antihelden des Alltags.

Alltagsgeschichten aus der rumänischen Provinz – ungehobelt, untergriffig und voller Humor.

Dan Lungu, geb. 1969 in Botosani, Rumänien. Lehrt am Soziologie-Institut der Universität in Iasi. Schreibt Lyrik, Kurzprosa und Romane. Zahlreiche literarische Auszeichnungen. Einer seiner Romane wurde ins Französische übersetzt und erscheint demnächst in deutscher Übersetzung mit dem Titel Das Hühnerparadies bei Residenz. Lesereise und Medienauftritte (u. a. bei ARTE) in Frankreich. Dan Lungus Konzept eines »mikrosozialen Neorealismus« findet seine griffigste Verkörperung in der Kurzprosa, die sich der Alltagssprache und subkultureller Jargons bedient. Die Texte zu Klasse Typen entstanden vorwiegend in Wien, wo der Autor 2004 am »Writer in Residence«-Programm von KulturKontakt Austria teilnahm.

In Rumänien nach der Wende
mbr. Diese Katastrophe ist selten ironischer und abgründiger beschrieben worden: das Aufwachen nach einer irgendwie verbrachten Nacht, konfrontiert mit einer fremden Frau, die des «Helden» nächt­lichen Heiratsantrag gerne annehmen will. Drastisch ist das Entsetzen ausgedrückt, genussvoll die ab­surde Situation inszeniert. Es ist nicht das einzige erzählerische Highlight in einer Sammlung von Kurzgeschichten des jungen rumänischen Soziologen. So verleiht Dan Lungu dem Sprecher einer Schülerclique in der nordöstlichsten rumänischen Provinz eine aus Argot und Überheblichkeit gemixte Sprache zur Darstellung der an Anthony Burgess' «Clockwork Orange» gemahnenden Sau­forgien und Sexphantasien der titelgebenden «Klasse Typen». Ihnen sind die politischen Umstände der Ceausescu-Zeit nur ein marginaler Anlass zur ätzenden Häme gegen die sozialistische Gesellschaft und ihre reduzierten Lebensbedingungen. Lungu erweitert die Sicht auf gebrochene Biografien nach 1989 und gibt darüber hinaus auch beeindruckende Studien des ersten Kontakts mit dem Westen. Er zeichnet ein eindringliches Porträt der fassungslosen Fremdheit zwischen den kulturellen Milieus in Ost und West in der literarischen Beobachtung kapitalismuskritischer Ökofundamentalisten im französischen Lille. Es ist für den Autor, wie ein autobiografischer Nachbericht erklärt, ein anregen­des Wunder, dass nun rumänische Schriftsteller sich auch in der realen Begegnung mit anderen Ge­sellschaften artikulieren können. (16. Februar 2008, Neue Zürcher Zeitung)

Endlich auf Deutsch: zwei witzig-kluge Bücher des Rumänen Dan Lungu. Lungu spielt mit Klischees und Vorurteilen, führt sie ins Absurde oder Komische. Er seziert die rumänischen Träume vom goldenen Westen und erzählt vom Alltag in der Provinz ... 'Klasse Typen' ist eine Sammlung von Geschichten, in denen sich steife Alteuropäer nach Romania verirren, die Rollen von Mann und Frau im Kapitalismus heftig durcheinander geraten oder von Mafiosi und den Rumänen der Rumänen erzählt wird: den Zigeunern. Die größte Differenz zwischen Ost und West zeigt sich bei der Ernährung. Während Sojaprodukte als cholesterinarmer Fleischersatz den voll gefressenen Westeuro­päern immer lieber werden, hassen die Rumänen abgrundtief alles, wo Soja draufsteht. Diente die Bohne doch in den Zeiten der Lebensmittelrationierung als Substitut für fast alles. (Mathias Schnitzler, Berliner Zeitung)


In seinem Kurzgeschichten-Band „Klasse Typen“ thematisiert der rumänische Schriftsteller Dan Lungu viele Stereotype über seine Heimat - und als studierter Soziologe und Universitätsdozent weiß er, wovon er spricht. Kaum ein anderes Land des ehemaligen „Ostblocks“ hat mit einem dermaßen schlechten Image und einem so schweren Erbe der Vergangenheit zu kämpfen: Ceaucescu und Secu­ritate, Dracula, Zigeuner, Kriminalität und Armut – nur einige der Stichworte, die den Außenblick auf Rumänien charakterisieren. Es sind Begriffe, die sich auch in den Geschichten Lungus finden, aller­dings nicht als bittere Anklage, sondern mit lust- und humorvoller Ironie. ... Mit Witz und bisweilen satirehafte Bosheit beschreibt er Menschen, die eigentlich genau das Gegenteil von „Klasse Typen“ sind. (Olga Hochweis,Deutschlandradio Kultur)


Das produktive Chaos des Landes, gepaart mit den Spuren und Ausläufern der kommunistischen Bürokratie, ergibt offenbar die Ausgangsbasis für eine Literatur, die einen Sinn fürs Surreale hat, aber auch für die feine Miniatur - und einen oftmals verzweifelten Humor. Dan Lungu versteht es, mit Spannungen umzugehen, ....Lungu verfolgt Sprachgebräuche, ahmt sie nach, analysiert sie. Auch hier ist eine Kneipe zentral, „Zerissene(r) Anorak“ heißt sie. Da geht Lungu in die Hirne und Idiome sei­ner Protagonisten, aber fragt zugleich durch deren Gestalt: „Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ Und fragt, wieviel Ironie es brauche, um ein Land zu verstehen und zu ändern, aber nicht zu verraten. .... So schreibt Dan Lungu große Literatur, ... (Martin A. Hainz, Die Furche)


Lungus Kurzgeschichten fordern Ehrlichkeit ein. Ehrlichkeit der Rumänen mit sich selbst, die Erfah­rungen der Ceausescu-Ära nicht zu verdrängen, die Resultate des Umsturzes im Jahre 1989 nicht zu verklären. Dabei geht er die Probleme des Landes mit bestechender Leichtigkeit und Offenheit an, kleidet sie in einen genussvollen Plauderton und seziert sie an mancher Stelle mit scharfer Ironie. Von der Existenz der Korruption bis zur Diskriminierung der Sinti und Roma spart er kein Thema aus. Daneben aber finden sich Alltagsszenerien, mit spielerischer Unbeschwertheit ausgeführt, die als kleine humorvolle Studien, als schlaglichtartige Einblicke in individuelle Lebensweisen hervortreten. Und somit weit über Rumänien hinausweisen ... (Ines Bayer, 3sat)


die Menschen im Band «Klasse Typen » sind keine Ausnahmeerscheinungen, sie schlagen sich durchs Leben, so gut es eben geht. Und das sind dann meistens ziemlich traurige bis groteske, aber stets reale Abenteuer. Der wöchentliche «Nahkampf mit Carolina » ist für einen dieser Nichthelden von vitaler Bedeutung, aber wie so vieles andere keineswegs selbstverständlich. Der Unterschied zwischen Rumänien und dem westlichen Ausland klingt immer wieder an. Lungus Geschichten, und mögen sie noch so surreal klingen, haben einen dokumentarischen Wert. Für viele von uns, die wir uns um Rumänien viel zu wenig gekümmert haben, sind sie eine ebenso unterhaltsame wie nützliche Lektion. Dabei ist - wie beim polnischen Autor Andrzej Stasiuk und dem Ukrainer Juri Andruchowytsch - die Atmosphäre wichtiger als die Handlung: die Stimmung einer Übergangszeit, de­ren Ende nicht abzusehen ist und die die Menschen einerseits lähmt und anderseits stimuliert - zu ironischen und sarkastischen Hirngespinsten ... (Paul L. Walser, WOZ)

… kein Buch für schwache Nerven, aber sehr wohl ein kräftiges Lebenszeichen aus dem neuen Europa ... (Bruno Lässer, Vorarlberger Nachrichten)

Radu ist bei einem Autounfall gestorben. Ich belasse den Satz so, wie ich ihn von meiner Mutter gehört habe. Ich lege mein Mobiltelefon auf den Tisch und denke an Radu. Ich bin in einem Straßenkaffee, und eine Tasse steht vor mir auf dem Tisch. Ich habe das Gefühl, dass ich weiß, warum er gestorben ist, dass ich den Unfall verstehe. Es ist ein sehr persönliches Verständnis der Dinge, und es würde mir schwerfallen, das jemandem zu erklären. Ich weiß gar nicht, ob mir das gelingen würde. Woher dieses Verständnis kommt, ist mir auch nicht ganz klar. Es ist eher ein Zustand. Um ihn zu vermitteln, um ihn zu verstehen, muss man etwas erzählen. Ganz von der Erzählung eingenommen, sagt dein Gegenüber irgendwann, dass er verstanden hat. Dieses Gegenüber kannst manchmal du selbst sein.
Ich erzähle mir selbst von Radu.
Ich glaube nicht, dass wir Freunde waren. Nachbarn, ja. In der Kindheit, wohlgemerkt. Kindheitsnachbarn klingt ziemlich unbeholfen, ist aber der Wirklichkeit am nächsten. Wir bewohnten benachbarte Wohnblocks, die sich aber von einander sehr unterschieden. Meiner wurde von eher wohlhabenden Menschen bewohnt, meist Angestellte, während in seinem Arbeiterfamilien und einige Zigeuner wohnten. In den 80ern war das gang und gäbe. Inmitten einer Anzahl gepflegter, robuster Wohnhäuser aus Ziegelstein baute man plötzlich ein Betonplattenhaus, das schnell verfiel und einem Büschel Unkraut mitten in einem gepflegten Garten glich.
Die Eltern in den Ziegelsteinhäusern erlaubten ihren Kindern eigentlich nicht, mit den Kindern aus dem Plattenbau zu spielen.
Die waren schlecht erzogen. Vielleicht hatten sie auch Läuse. Die Krätze hatten sie ganz sicher. Sie würden einem das Essen aus der Hand reißen. Das brachte man uns zuhause bei.
Radu gehörte zu den Räudigen.