In Geschichten um die Welt

Die Weltreisende und deutschschreibende Schriftstellerin Alma M. Karlin (1889–1950, Celje, Slowenien) war in den 1930er Jahren mit ihrer Reisetrilogie Einsame Weltreise, Im Banne der Südsee und Erlebte Welt eine der beliebtesten Reisebuchautorinnen im deutschsprachigen Raum. Weniger bekannt ist, dass sie auch zahlreiche Novellen und Erzählungen verfasste, die sie meist während ihrer Weltreise in den Jahren 1919 bis 1927 skizzierte und nach ihrer Rückkehr nach Celje/Cilli fertigschrieb.

In den Geschichten begleiten wir die Autorin literarisch auf ihrer Weltreise in den Jahren 1919–1927 und folgen ihr nach Peru und Panama, Japan und China, in die Südsee und nach Indonesien, nach Thailand und Indien der 1920er Jahre. Die Autorin sieht entweder als Ich- oder Sie-Erzählerin mehr als den schillernden Schein der Exotik oder Romantik, sie interessiert sich betont für die kleinen und großen Tragödien der Frauen überall auf der Welt, dringt meist in die geistige Welt ihrer Protagonisten und in die geheimnisvollen Regionen der menschlichen Seele. Auch liegt über ihren Erzählungen oft eine mystische Atmosphäre. Eine spannende Fabel, ein dramatischer Schwung, ein offenes Ende sorgen auch nach hundert Jahren für eine fesselnde Lektüre und gewähren einen tieferen Einblick in das literarische Schaffen der großen Weltreisenden Alma M. Karlin.

„Arme kleine Goldnessel!“, dachte er unwillkürlich, denn er kannte sie seit ihrer Kindheit, als sie noch Schülerin und Eigentum der alten Geisha gewesen, die hübsche Waisenkinder aufzukaufen und auszubilden pflegte. Da hieß es geistvolle Zitate lernen, sich in altjapanische Geschichte vertiefen, und tanzen, immerzu tanzen! Stundenlang bearbeiteten die kleinen Finger das Samisen und Lied auf Lied musste gesungen werden. Selbst die Probenacht im eisigen Wind war ihr nicht erspart geblieben und nun hatte sie die vielbegehrte, raue Stimme, die erst ihre Vollwertigkeit darstellte. Fürwahr, wer flüchtig ins Leben schaute, sah nur Rosen, doch wer darin wandern musste, fühlte oft nur die Steine und Dornen …

O Yamabuki san – das ehrenwerte Fräulein Goldnessel – die Perle aller Tanzmädchen Tokios, kniete hinter dem Sockel des steinernen Tempelwächters und legte etwas auf den harten Kies, das in bunte Tücher gehüllt einem Blumenstrauß glich. Ein spärlicher Schattenrest, vom überragenden geschwungenen Tempeldach gewährt, schützte das Ding vor dem Mittagsglast. „O du Perle aller Perlen, o du Tautropfen auf den Lotosblättern in Amidas Garten“, hörte der Priester im schattentiefen Heiligtum sitzend die junge Geisha klagen, „warum müssen es die Hände deiner Mutter sein, die dich auf harten Kies anstatt auf weiche Matten betten? Mein Herz gleicht dem Vogel, dem der Sturm die Flügel gebrochen hat …

Alma M. Karlin (1889–1950) war eine polyglotte Weltreisende und in den 1930er Jahren mit ihrer Reisetrilogie Einsame Weltreise, Im Banne der Südsee und Erlebte Welt eine der beliebtesten Reisebuchautorinnen im deutschsprachigen Raum. Sie verfasste auch zahlreiche Erzählungen und Romane.

Jerneja Jezernik, geb. 1970 in Celje, Slowenien. Sie studierte Slowenisch und Deutsch an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana. Zwischen 2000 und 2014 arbeitete sie in Deutschland (Stuttgart, Berlin) und in Österreich als Sprachlehrerin, Journalistin und Leiterin der Slowenischen Studienbibliothek in Klagenfurt. Sie beschäftigt sich seit gut zweieinhalb Jahrzehnten mit dem Nachlass von Alma M. Karlin. Von ihr stammt auch die erste deutsche Biographie über Alma M. Karlin, Mit Bubikopf und Schreibmaschine um die Welt, die 2020 auf der Hotlist der unabhängigen Verlage stand. Zudem übersetzte sie mehr als ein Dutzend Werke aus dem Deutschen und Slowenischen. Sie lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Ljubljana.