Obwohl es in Europa eine ganze Menge an Siedlungen gibt, die dem gängigen Sprachgebrauch nach als Slums oder Elendssiedlungen bezeichnet werden, fragt kaum jemand danach, warum es zu deren Entstehung kommt, wie es sich darin leben lässt und wie der Ort den Alltag seiner BewohnerInnen prägt. Besonders auffällig wird dies am Beispiel jener Elendssiedlung unterhalb der Autobahnbrücke Gazela, im Herzen Belgrads: täglich fahren Zehntausende an den Hütten und Baracken vorbei und dennoch gibt es kaum glaubwürdige Informationen über die Siedlung und die Menschen – in überwiegender Mehrheit Roma – die dort zu wohnen gezwungen sind.

Ab welcher Größe ist eine Ansammlung von Hütten und Baracken als Siedlung zu betrachten? Was unterscheidet Hütten von Baracken? Wie lebt man ohne städtische Infrastruktur, ohne Wasser, ohne Strom? Wie organisieren sich die BewohnerInnen, welcher Arbeit gehen sie nach? Wie steht es mit ihrer medizinischen, wie mit ihrer kulturellen Versorgung?

Der Reiseführer in eine Elendssiedlung führt in diesen weißen Fleck, um dessen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein neu zu definieren: einerseits sollen die LeserInnen dazu animiert werden, Gazela oder ähnliche Siedlungen zu besuchen, um sich unmittelbar mit der Situation auseinander zu setzen, andererseits werden grundlegende Informationen über die sozialen wie ökonomischen Strukturen und Zwänge bereitgestellt, unter denen die BewohnerInnen solcher Siedlungen zu leben gezwungen sind. Darüber hinaus macht der Reiseführer auf die vielschichtigen Mechanismen der Marginalisierung und Diskriminierung von Roma aufmerksam und will mit der fundierten Beschreibung dieses Soziotops eine Basis für weitere Initiativen schaffen. Zahlreiche Fotos, die zum Teil von den BewohnerInnen der Siedlung selbst stammen, erlauben auch denjenigen einen Einblick, welche sich nicht konkret auf diese Reise begeben wollen.

Reiseführer in eine Elendssiedlung

Mit der Überführung von ethnologischer Recherche in das konkret anwendbare Medium des Reiseführers ist den Autoren Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü eine eindrucksvolle Verbindung von wissenschaftlicher und künstlerischer Methode gelungen, welche 2007 mit dem Würdigungspreis der Akademie der bildenden Künste bedacht wurde. Im Mai 2008 wird der Reiseführer in eine Elendssieldung auch auf der bucharestbiennale 03 präsentiert werden.

LORENZ AGGERMANN, geboren 1977 in Graz, studierte in Wien und Berlin Theater-, Film und Medienwissenschaft, Europäische Ethnologie und Germanistik. Arbeitet an diversen Theatern/Festivals und schreibt neben dieser Tätigkeit in loser Folge Rezensionen, Essays, wissenschaftliche Aufsätze und anderes.

EDUARD FREUDMANN, geboren 1979 in Wien, studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien und an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit Herbst 2007 ist er an der Akademie der bildenden Künste als Universitäts-Assistent tätig.

CAN GÜLCÜ, geboren 1976 in Bursa/Türkei, studiert an der Akademie der Bildenden Künste Post Conceptual Art Practices, davor Studium der Architektur an der TU Wien.

Der kompakte „Reiseführer" gibt in 18 Kapiteln auf 223 Seiten Auskunft über das Gebiet, die Entstehungsgeschichte und die Bevölkerung der Elendssiedlung. Die Repräsentation des Slums umfasst visuelle Stilmittel wie kartographische Abbildungen, Flugbildaufnahmen und Quartiersansichten in Form zahlreicher Fotografien. Die vorderen Kapitel widmen sich stärker den praktischen Aspekten und dem Alltag in Gazela: Die Siedlung, Wohnen, Bevölkerung, Gesundheit, Wirtschaft, Transport sind einige der Themen, die aufgegriffen werden. Gegen Ende befasst sich der „Reiseführer" hauptsächlich mit den sozialen Problemen der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Einbettung in die serbische Gesellschaft.
Beograd Gazela ist eine Aufzeichnung und Analyse vielschichtiger Mechanismen von Marginalisierung und Diskriminierung und könnte als ein kulturanthropologisch inspiriertes Kunstprojekt bezeichnet werden.
(dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Christian M. Peer)