Das identitätspolitische Lesebuch

Als Richard Schuberth sich an den Schreibtisch setzte, um eine umfassende Kritik der Identitätspolitik (und ihrer Kritiker) zu schreiben, musste er feststellen, dass das Wesentliche dazu schon längst gesagt wurde, von anderen, aber – zu seinem Erstaunen – auch von ihm selbst.

In seinem publizistischen Schaffen der letzten fünf Jahre finden sich nicht wenige Texte zu diesem sehr heterogenen Themenkomplex. So beschloss er kurzerhand eine Anthologie herauszugeben, mit Essays, Satiren, Interviews, Radiotexten, Aphorismen, Postings, Cartoons und Bildcollagen, die zum Teil bis in die späten 1980er-Jahre zurückdatieren, als Diskussionen zur Identitätspolitik nicht weniger heftig geführt wurden als heute.

Ein unkonventionelles Buch als buntes Mosaik jüngerer und älterer Interventionen zu Rassismus, Antirassismus, Feminismus, Maskulinismus, #MeToo, Political Correctness, Sprachregulierung, kultureller Aneignung, Wokeness, Critical Whiteness und postkolonialen Ansätzen, neuem Puritanismus, Standortbestimmungen der Linken zwischen Klassen- und Anerkennungspolitik, linkem Nationalismus, der Betroffenheitsrhetorik in sozialen Medien, der Frage, was Satire darf – und nicht zuletzt seinen essayistischen Länderstudien zur Konstruktion nationaler Identitäten.

Mit der „Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung“ stellt der Autor in diesem heißumfehdeten Feld jedenfalls einen Kompass zur Verfügung, dessen Nadel zwar fröhlich zittert, aber eine ungefähre Richtung vorgibt, wie sich Identitätspolitik kritisieren lässt, ohne den emanzipatorischen Anspruch der neuen sozialen Bewegungen zu verraten.

Richard Schuberth, geb. 1968 in Ybbs a. d. Donau, Romancier, Essayist, Dramatiker, Kulturwissenschaftler, Cartoonist, Songwriter, Regisseur. Publikationen: die Romane Chronik einer fröhlichen Verschwörung und Bus nach Bingöl, die Sachbücher Narzissmus und Konformität, Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskriegs und Karl Kraus. 30 und drei Anstiftungen, die Aphorismensammlung Das neue Wörterbuch des Teufels. Im Drava Verlag: die Textanthologien Rost und Säure und Unruhe vor dem Sturm sowie die Theaterstücke Freitag in Sarajevo, Trommeln vom anderen Ufer des großen Flusses, Wie Branka sich nach oben putzt und Frontex – Keiner kommt hier lebend rein.

Rezensionen & Reaktionen

Pressestimmen

Falter vom 1. Juli 2022

Die Lust am Formulieren ist nicht Selbstzweck, sondern birgt das Bewusstsein, dass der sprachliche Ausdruck Teil des Auszudrückenden ist. Ziel ist nicht, Inhalt und Form in Deckung zu bringen und damit falsche Identität zu behaupten, sondern das Herstellen erkenntnisfördernder Anordnungen, die sich reiben und Funken schlagen. So entsteht durch die sprachliche Versiertheit Richard Schuberths das, was er an deutschsprachigen Debatten schmerzlich vermisst und im englischen wit, auf französisch esprit heißt. Das Buch ist ein Vademekum radikaler Kritik, die eben nicht kategorische Urteile für oder gegen etwas fällt, sondern unablässig den ideologischen Bedingungen nachspürt und kenntnisreich falsche Dichotomien hinterfragt, in die sie sich selbst zu verheddern droht. Sie besäuft sich nicht an der selbstgebrannten Geistigkeit und läuft nicht der eigenen Fahne hinterher.
Claus Harringer, Versorgerin

…›Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung‹, ein bei Drava erschienenes ,identitätspolitisches Lesebuch’ zum Irrsinn dieser Tage, dessen heitere, schlaue und doch auch ermutigende Gedanken Seite für Seite erfreuen. (…) Fabelhaft.
Schweizer Monat

Zunächst sind es sein frecher Witz und seine Hingabe für die dichteste und schlagendste Formulierung, die Seite für Seite auch Skeptische überzeugen mögen. Und Schuberth schafft es, gleichzeitig analytische Kritik an der »Identitätspolitik» zu formulieren und sie gegen den rechtspopulistischen Mainstream zu verteidigen. Damit liegt mit »Lesebuch« keine Anleitung zum Verrat an emanzipatorischen Bewegungen vor. Es ist vielmehr eine Rückschau auf das vielfältige Œuvre eines geübten Ideologiekritikers und scharfen Senfablassers voller unbequemer, aber umso erhellenderer Gedanken. Ein Buch, das allen auf die Nase gibt, inklusive sich selbst.
Olja Alvir, Der Falter