Die Neuerungen, die Vladimir Bartol in die slowenische Literatur einführte, waren so weitreichend, dass es erst zwanzig Jahre nach seinem Tod zu einer intensiven Befassung der breiteren literarischen Öffentlichkeit mit diesem Autor kam. Die sieben zwischen 1935 und 1940 entstandenen Novellen, die Bartol zu dem Erzählband mit dem Titel Zwischen Idylle und Grauen zusammenfasste, wurden erst 1988 als Buch veröffentlicht.
»Mit diesen ›Novellen‹, die einen abgerundeten Ausschnitt aus der Welt der Fiktion dieses literarischen Einzelgängers darstellen, versuchte Bartol – der Autor des berühmten Romans Alamut – ein neues, hybrides Genre zu etablieren. Er wandte sich von der Schreibweise des sozialen Realismus ab, der vor dem Zweiten Weltkrieg den Mainstream in der damaligen slowenischen Literatur darstellte, verabschiedete sich aber auch von den Erzählverfahren, die sich in der Tradition Cankars herausgebildet hatten. Interessanterweise bedient er sich, wie vor ihm Cankar, der Ironie, handhabt diese allerdings auf eine ganz eigene Art, die mehr an E. T. A. Hoffmann und die spezifische Atmosphäre erinnert, die Freud in das Konzept des ›Unheimlichen‹ fasste. Die ironische Distanz, mit er dieses anhand der kleinen slowenischen Verhältnisse, der Provinz und des Dorfes thematisiert und die Hand in Hand mit einer diskreten Kommentierung des Geschehens geht, weist Bartol als einen feinen Beobachter und als Autor von europäischem und weltliterarischem Format aus.« (Jelka Kernev Štrajn)
Novellen 1935–1940
Sieben Novellen zwischen haarsträubender Komik und unheimlicher Ironie von einem der großen wiederentdeckten Autoren.
Vladimir Bartol, geb. 1903 in San Giovanni/Sveti Ivan (Štivan) bei Triest, gest. 1967 in Ljubljana, Prosaist, Essayist, Dramatiker, Entomologe; wirkliches Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Lebte nach Studium der Biologie und Philosophie in Ljubljana und Paris als freier Schriftsteller in Beograd und in Ljubljana und war nach der Okkupation 1941 aktiv im Widerstand tätig. Lebte nach dem Krieg in Triest und in Ljubljana.
Nun sind überdies die ersten fünf Bände einer Slowenischen Bibliothek" erschienen, die auf immerhin 30 Bände konzipiert ist. Solche Ehre - und Mühe! - wurde bisher nur der polnischen, der tschechischen und der türkischen Literatur zuteil" (Jörg Plath, NZZ, 29.6. 2013)
Nach diesem Abend brach rund um Brešcak ein unbeschreibliches Chaos aus. Die Gefühlsfäden verhedderten sich, und eine geradezu greifbare nervliche Anspannung entstand.
Lucija blieb bei Frau Josipina. Brešcak selbst hatte es so verlangt. Sie war irgendwie in das Räderwerk geraten, das er unwillkürlich um sich erschaffen hatte. Zu sich selbst sagte er zwar, dass ihn die Vorsicht dazu bewog. Lucija hatte ihm nämlich gedroht, seiner Verlobten zu schreiben und ihr seine Untaten zu enthüllen. Und weil sie auch ihre Dienstherrin damit erschreckte, Brašna zu sagen, was in ihrem Haus vor sich ging, war es nicht schwer, Frau Josipina zu überreden, sie irgendwie unter ihrer Kontrolle zu behalten.
Nicht ein Atom von Brešcaks Kräften blieb sozusagen ungenützt. Die Arbeit auf dem Bau ging ihm unwahrscheinlich gut von der Hand. Er hatte stets über alles den Überblick, sah jede Kleinigkeit, handelte rasch und entschlossen. Außerhalb des Berufs war er mit der Abwicklung und Ordnung seiner Gefühlsbeziehungen überbeschäftigt. Keine der Frauen wollte nachgeben, alle reklamierten ihn für sich, und seine Aufgabe war, alle Kräfte im Gleichgewicht zu halten.
Mit Frau Josipina durfte er es sich nicht verscherzen. Er verbrachte einige Abende mit ihr, und an den anderen Tagen besuchte er sie nachmittags. Štefica war seine größte Freude. Fast die ganze übrige Zeit widmete er ihr. Sie war emotional im Aufruhr: ihre Stimmungen schwankten ständig zwischen Weinen und Lachen. Einen besonderen Nervenreiz bedeuteten für ihn seine unangekündigten Morgenbesuche bei Lucija. Sie erwartete ihn jeden einzelnen Tag in unbeschreiblicher Erregung. Sie spekulierte vergeblich, wann er kommen würde; seine Ankünfte trotzten jedem System. Ihre nervliche Anspannung ging dem Höhepunkt zu: die Befreiung kam nur, wenn sie sich ihm nackt, glühend an den Hals werfen konnte.
Er sah, wie seine Freundinnen eine vor der anderen die Augen verschlossen. Das erleichterte ihm seine Lage. Er spürte, dass er die Situation mehr denn je im Griff hatte. Die Angst vor der Realität hielt sie davon ab, in ihn zu dringen. Die Angst vor ihm aber, sich zu beschweren. Was ihm an Gefühlskräften noch blieb, nutzte er zum Schreiben der Briefe an Darinka. Dabei wurde er oft so sentimental, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. In solchen Momenten hatte er das Gefühl, sie nie so stark geliebt zu haben.
(Aus: Das Ende der Abenteurerei, 1936)