Das Schiff Morgen fährt flussaufwärts. Es ist beladen mit geheimen Worten und neigt zum Kentern. An Bord achtzehn Schriftstellerinnen, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse austauschen. Das Schiff wird von einer Kommandoeinheit gekapert, die Schriftstellerinnen des Terrorismus beschuldigt und unter Hausarrestgestellt: achtzehn argentinische Schriftstellerinnen, die mit einem Federstrich von der literarischen Landkarte gefegt werden. Elisa Alagañaraz ist eine der festgehaltenen Schriftstellerinnen. Sie haben ihre Bibliothek geplündert, ihre Werke vernichtet und ihr nur ihren Laptop gelassen. Sie entscheidet sich nach Monaten der Gefangenschaft und Verzweiflung, ihre Odyssee an Bord des Schiffes zu erzählen, im Wissen, dass ihr Geschriebenes wöchentlich von Ordnungswächtern wieder gelöscht wird. Was ist so bedrohlich für die Machthaber? Die Kraft ihrer Worte? Eine eigene Sprache der Frauen? Die Frage nach der wirklichen Stimme des Menschen? Vom ersten Moment ihrer Gefangenschaft an versucht Elisa Algañaraz, Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie nimmt Kontakt auf mit dem israelischen Übersetzer Omér Katvani, der wiederum Esteban Clementi, einen argentinischen Hacker, einbindet. Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte, eine Geschichte der Verfolgungen, der Gefahren und der Verschwörungen, die zu einer beinahe unmöglichen Antwort ineinanderlaufen. Luisa Valenzuela vereint ausgeprägten Sinn für Humor mit der Schärfe der Reflexion. Von Kritikern wird sie verglichen mit Angela Carter und Roberto Bolaño. Morgen spricht über Identität und Sprache, über die Beziehung der Frauen zur Macht und über die Geheimnisse künstlerischen Schaffens. Ein Roman voll Spannung, Abenteuer und Ideen, zweifellos ein Höhepunkt im umfangreichen Werk einer Schriftstellerin von internationalem Rang.

Roman

Luisa Valenzuela, geb. 1938 in Buenos Aires, als Tochter der bekannten argentinischen Schriftstellerin Luisa Mercedes Levinson. Daher lebte sie bereits als Kind in einer literarischen Atmosphäre, umgeben von Schriftstellern wie Jorge Luis Borges oder Adolfo Bioy Casares. Bei Borges arbeitete sie in der Nationalbibliothek von Buenos Aires. Seit ihrem 17. Lebensjahr ist sie als Journalistin sowohl in ihrem Heimatland als auch in den USA für verschiedene Zeitschriften (New York Times, Village Voice, Vogue, Vanity Fair etc.) tätig gewesen. Sie unternahm ausgedehnte Reisen durch Europa und Lateinamerika und war etwa Redakteurin bei Radio Télévision Française. Von 1957 bis 1961 lebte sie in Frankreich, wo sie auch Kontakt mit der Gruppe Tel Quel sowie mit den AutorInnen des „Nouveau Roman“ aufnahm. In den 1960er Jahren bekleidete sie den Posten einer stellvertretenden Chefredakteurin der Samstagbeilage von La Nación, der bekannten argentinischen Tageszeitung. 1970 erhielt sie ein Fulbright-Stipendium in die USA, wo sie mit einigen der hervorragenden LiteratInnen Lateinamerikas gemeinsam im „International Writers Program“ der University of Iowa integriert war. Dort schrieb sie auch ihren Roman El gato eficaz, der den eigentlichen Durchbruch in ihrem literarischen Schaffen darstellte. Nach vielen Jahren unsteten Reisens (Mexiko, Spanien, Paris, Schottland) und – seit 1979 – politischen Exils in den USA, wo sie u. a. „Writer in Residence“ an der Columbia University war und an der New York University Post-graduate-Kurse in Literatur abhielt, kehrte sie 1989 wieder in ihre Heimatstadt Buenos Aires zurück.

(...) »Morgen« – Luisa Valenzuela aus Buenos Aires entwickelt eine spannende abenteurliche Geschichte über Identität und Kunst wie auch über das Verhältnis von Frauen und Macht. (Neues Deutschland 20. Januar 2011)

Um 6:25 Uhr stand ich schon bereit, obwohl ich die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Wer kann schon schlafen, wenn er ganz aufgewühlt ist, weil das Schreiben auf einmal ganz leicht von der Hand geht? Aber man darf ja nicht unvorsichtig werden. Der Viehtreiber, so wie ich ihn nenne, müsste mich jetzt eigentlich abholen kommen, und da heißt es, fertig zu sein, damit er ja nicht auf den Gedanken kommt, einzutreten und in meinen Texten herumzuschnüffeln.
Ich wartete schon verschleiert hinter der Tür auf ihn, mit einem schwarzen Tschador, ganz ohne Protest wie einst, ohne Diskussion. Ich, die immer dafür war, der Welt die Stirn zu bieten, muss diese nun verschleiern. Den Wächter, der mich normalerweise zum Spaziergang abholt, nenne ich den Viehtreiber, weil ich mir dabei wie ein Pferd im Hippodrom vorkomme. Es fehlt eigentlich nur noch ein Halfter. Er führt mich nur dem Schein nach frei herum, denn ich bin durch eine Art unsichtbare Leine an ihn gebunden, wobei ich nicht einmal wirklich verstehe, wie das sein kann. Wieso versuchen wir gefangene Schriftstellerinnen eigentlich nicht zu fliehen? Was hält mich/uns davon ab? Ich habe Hausarrest, und wenn ich auf die Straße gehe, muss ich einen Tschador tragen. Nur meine Augen sind zu erkennen. Immer in Begleitung natürlich, für einen reinigenden Spaziergang, der in keiner Weise dem Ausgang der jungen Soldaten jener Zeit gleicht, die auf der Suche nach Prostituierten waren, weil damals Vögeln als heilsam angesehen wurde. Das waren Männer. Für uns Schriftstellerinnen, uns schlimme Sünderinnen, ist es heilsam, ein paar Runden im Park zu drehen: ein bisschen Bewegung an der frischen Luft, zwei Mal unter der Woche, nicht an Wochenenden, bei Tagesanbruch, solange es nicht regnet.