Mit »Weiße Chrysantheme« wird erstmals ein Querschnitt durch Cankars kulturkritische und politische Schriften vorgelegt. Der Band vereinigt 45 Texte, die zwischen 1897 und 1918 erschienen sind und eine repräsentative Einführung in Cankars politisches Denken bieten. Er enthält neben frühen journalistischen Arbeiten, neben Kritiken, Ausstellungsberichten und politischen Kommentaren vor allem Cankars Essayistik und die kulturhistorisch bedeutenden Reden, die der Autor während seiner kurzen Zeit als aktiver Politiker (1907) und als Privatmann angesichts der Erschütterung des Ersten Weltkrieges hielt. Cankar war Dissident. Er legte sich schon als junger, in Wien niedergelassener Autor konsequent und methodisch mit dem nationalen Establishment seiner Heimat an und bezog aus dieser Auseinandersetzung die kompromißlose Haltung, die er zum Überleben als Künstler benötigte und die ihn zur Integrationsfigur für die nachfolgende Generation der intellektuellen slowenischen Avantgarde machte.
Aus den nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Schriften tritt uns ein moderner Denker entgegen, der sich ideologisch links positionierte, der als Skeptiker aber stets auch die Gefahr der praktischen Vereinnahmung geistiger Arbeit sah und der nur mehr im eigenen Namen sprach, als er in seinen letzten Reden den Slowenen ihre bessere Zukunft entwarf. Diese letzten Texte sind auch heute noch berührende Dokumente der Menschlichkeit, geschrieben von einem mit 42 Jahren bereits zu Tode gearbeiteten Menschen, sie zeugen aber von einem immensen Überlebenswillen, vom ungebrochenen Willen zur Schönheit und Wahrhaftigkeit.

Kritische und politische Schriften

Ivan Cankar (1876–1918) lebte als freier Schriftsteller in Slowenien und Wien-Ottakring. Er ist der bedeutendste Vertreter der slowenischen Moderne. Sein Gesamtwerk umfasst 30 Bände.

Wenn der Arbeiter sonstwo ein Sklave war, war er in unseren slowenischen Gegenden doppelt versklavt! Woanders beutete man seine Hände und seinen Kopf aus, bei uns nahm man ihm darüber hinaus noch den Stolz, man sprach ihm die Seele ab und schnitt ihm die Zunge heraus. Für den fremden Kapitalisten und Beamten war der slowenische Arbeiter ein Tier, das schweigen muß, weil es nicht sprechen kann »wie ein Mensch«. Mit übernatürlicher Anstrengung, mit einer Opferbereitschaft sondergleichen erweckten einzelne – es waren wenige! – diese unsere Arbeiterschaft zu einem höheren kulturellen Leben, verhalfen ihr mit Hilfe der Organisation nach langen Kämpfen zu einem Stück besseren Brots, bemühten sich gleichzeitig, ihr die nötige geistige Nahrung zu geben. Was das letztere betrifft aber fehlte es an Kräften, an Arbeitern. Die kleine Zahl derer, die sich um die kulturelle Bildung der Arbeiter bemühten, waren meist Autodidakten, Arbeiter, die in ihrem bitteren und schweren Alltagsleben das Bedürfnis nach höherer Bildung, nach der Schau weiterer Horizonte verspürten. Sie arbeiteten, wie sie eben konnten, doch sie errichteten die Fundamente für die Arbeit jener, die nach ihnen arbeiten und bauen würden. Für die Arbeit jener, deren große und heilige Pflicht es ist, die Masse unseres slowenischen Volks zum höchsten geistigen Bewußtsein zu führen, in die Weltkultur. Und das ist die Pflicht der slowenischen Intelligenz. Aus dieser Pflicht kann und darf sie sich nicht drücken, weil sie sonst ihres eigenen Volkes nicht würdig wäre und sich von ihm isolieren würde. Zugleich, wenn sie diese Pflicht übernimmt, übernimmt sie aber auch eine gigantische Verantwortung. Ohne alle Bedenken kann ich zu jemandem sprechen, der ein gebildeter Zweifler ist, der schon längst die Fehler und Verirrungen des Menschenverstandes erkannt hat. Schwieriger aber ist es, für einen Arbeiter zu sprechen und zu schreiben, der keine Lüge und Zweideutigkeit kennt, der buchstäblich glaubt, was er hört und liest. (Aus: Die slowenische Kultur, der Krieg und die Arbeiterschaft, 1918)