Ein Band kurzer und kürzester Gedichte einer Frau aus Nicaragua, die niemals daran dachte, sich entscheiden zu müssen: zwischen ihrer Bildungsarbeit, der Betreuung vieler Sozialprojekte und ihrer dichterischen Existenz.
Nicht nur um das große Mysterium von Leben und Tod geht es, sondern auch um die konkrete Not, an der wir betroffen und erschüttert vorbeileben. Nicht nur um die Lehre vom Schönen ist es zu tun, sondern auch um ein Standhalten vor dem Schrecklichen, dem Trostreichen, das ihm und uns innewohnt.
Vieles in der Poesie Nicaraguas, besonders der der Frauen, ist Ausdruck einer klaren Sicht dieser Realität, eines desencanto, einer Entzauberung, die den Fluchtweg in himmlische, weltferne Sphären versperrt, aber auch einer tiefen Sehnsucht nach Hoffnung gebenden, gültigen Grundlagen einer alle Kulturen tragenden mystischen Gemeinsamkeit alles Menschlichen, die sie zur Sprache bringt. Eine Frage des Lebens und des Überlebens in Würde.
Michèle Najlis, die Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Mitteleuropa, greift uns vertraute poetische Stilmittel ebenso auf wie die der Mystik des großen persischen Sufidichters Dschalal ad-Din ar-Rumi aus dem 13. Jahrhundert. Eine große, allen Menschen und religiösen Ausdrucksformen zugrundeliegende gemeinsame Tiefe wäre ihr Anliegen, möchte man sagen, stünde dem nicht die große, aber auch kleinmütige Einsamkeit eines jeden von uns entgegen, die wir kaum auszuhalten gewillt sind.
Diese Lyrik will Erinnerung an eine Klugheit sein, die sich dem Anderen öffnet. Ein frischer Wind fährt durch Althergebrachtes, legt Unerwartetes frei, auch längst Vergessenes, das ausgesetzt ist allen Unwettern, dem Himmel, a la intemperie, wie der ursprüngliche Titel dieser Sammlung von Gedichten gelautet hat.

Gedichte Spanisch-Deutsch

Erinnerung an eine Klugheit, die sich dem Anderen öffnet.

Michèle Najlis, geboren 1946 in Granada (Nicaragua), zählt neben Gioconda Belli und Vidaluz Meneses zu den herausragendsten Schriftstellerinnen Nicaraguas.
Sie ist Kulturpublizistin, Verfasserin von Lehrbüchern, lehrte Literatur an der Universidad Centroamericana (UCA), leitete dort das Kulturinstitut und gestaltet wöchentlich Radiosendungen zu gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Themen. Michèle Najlis ist seit vielen Jahren regelmäßig zu Gast in Österreich und war Lektorin an der Universität Klagenfurt.
Werke: El viento armado (1969), Augurios (1980), Ars Combinatoria (1988), Caminos de la Estrella Polar (1990). Auf Deutsch: Cantos de Ifigenia/Gesänge der Iphigenie (Drava 1997); La soledad sonora/Tönende Einsamkeit, (2007).

»50
Nicht einmal
ein Echo
sind meine Worte
Deiner Stimme,
die in mir wohnt
und meine Sinne trunken macht.

55
Es blutet
das Herz der Liebenden,
die einander rufen,
erblindet,
inmitten des Lichts.

56
Gib mir
eines Deiner Worte,
mit Freude übersäen
will ich das Kissen meiner Träume.

66
Hilf mir,
die schreckliche Grenze der Stille
zu überschreiten,
mich, auch Deiner, zu entäußern,
ohne Angst
die leeren Augen des Nichts zu schauen
und Dir zu begegnen.

67
Jenseits des stillen Labyrinths
des Nichts
mein Sehnen nach dem Un-Weg
wo keine Worte sind
und Verschwiegenes.«