Weshalb hat Musil seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften nicht abgeschlossen? Welche Enden hätte er gefunden, was ist aus den Konzeptionen zu erkennen? Oder gibt es nicht überhaupt doch ein Ende, in den Bergen von Manuskripten verborgen, die der Autor hinterlassen hat? Die Frage nach dem Finale des Mann ohne Eigenschaften gibt ein Rätsel auf. Walter Fanta, Herausgeber der digitalen Musil-Edition, hat sich zwanzig Jahre lang mit der Entzifferung und der textgenetischen Erforschung von Musils Manuskripten befasst und aus der Deutung der Notizen, die erst halb verschriftlichte Spuren von bloß Gedachtem repräsentieren, Lösungen des Rätsels entwickelt. Musils Nachlass stellt tatsächlich ein Labyrinth dar, einen gigantischen prä-digitalen Hypertext, eine riesige Spielanlage, in der ein Autor als ›Herr des Spiels‹ und zugleich Knecht unterschiedlicher Spielverläufe, die sich verselbstständigt haben, ein jahrezehntelanges philosophisch-literarisches Experiment betreibt. Für das Finale seines Romans hat sich Musil in den vielen Phasen des Schreibens 1919–1942 viele Ausgänge erdacht, am Ende konnte er sich für keinen entscheiden. Die Interpretation der Konzepte stellt vier Fluchtlinien fest, auf die der Roman hinläuft: 1. »Dass Krieg werden musste, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen«, sagt Musil 1926 in einem Interview. 2. Im Wahn, im Massenwahn und im Einzelwahn, als Kausalitätszerfall und als Pseudologik, versinkt am Ende die Welt und der/die Einzelne. 3. Sexuelle Entladung verspricht Erlösung; Karneval, Tanz auf dem Vulkan, Apokalypse. 4. Die letzte Liebesgeschichte, die der Roman noch der letzten brieflichen Äußerung Musils zufolge sein möchte, führt in asexuelle Entropie, der Vollzug des Geschwisterinzests wandert aus dem Roman hinaus.

Das Finale des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil

Die Prätention des Nicht-Erzählens, das Verschweigen der Geschichte.

Walter Fanta, geb. 1958, Germanist und Historiker, Dozent am Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt, ist Mitherausgeber der »Klagenfurter Ausgabe«, der digitalen kommentierten Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften Robert Musils. Seit Mitte der 1990er Jahre beschäftigt er sich mit der editorischen Erschließung von Musils Nachlassmanuskripten. Die wichtigste monographische Veröffentlichung neben zahlreichen Publikationen zu Musil in Sammelbänden und Fachzeitschriften: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil (2000). Walter Fanta ist Geschäftsführer der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft.

Fluchtpunkt ›Sex‹. Die Pläne für das Finale des Mann ohne Eigenschaften sehen zumindest ursprünglich die Darstellung exzessiver sexueller Entladung vor. Clarisse wird von Walter vergewaltigt, Moosbrugger fällt in seinem Versteck nach der gelungenen Flucht aus dem Gefängnis über das gefeuerte Dienstmädchen Rachel her, Ulrich verführt Diotima im Anschluss an ein Gartenfest, der Rausch des Kriegsausbruchs mündet in allgemeine Promiskuität, die gewendeten Figuren bekräftigen ihre neue Identität im Partnertausch. Diese zweite Fluchtlinie des Romangeschehens resultiert aus produktionsgeschichtlichen und konzeptionellen Motivierungen. Musil transferiert im jahrzehntelangen Schreibprozess obsessive sexuelle Fantasien in den jeweils noch ungeschriebenen Teil des Romans. Der Vorgang ist auf der Ebene der Autorpsyche als Sublimierung zu beschreiben, auf der Ebene der Romanfiktion als Sanktifizierung der Hauptfigur Ulrich, zu dessen Eigenschaftslosigkeit auch gehört, scheinbar keine Sexualität zu besitzen, Verführungssituationen auszuweichen, sich aus seinen Frauenbeziehungen zu lösen und einen zunehmend zölibatären Habitus anzunehmen. Dem heiligen Ulrich im kanonischen Teil des Romans stehen obszöne Fantasien und Szenen sadistischen Gehalts in den Apokryphen gegenüber, gipfelnd in der Verführung Diotimas. In dieser Schlüsselszene des unveröffentlichten Romanteils fallen der produktive und der konzeptuelle Aspekt zusammen. Musil behält sich die Ausgestaltung der ödipalen Verwirklichung im Koitus Ulrichs mit Diotima zur Bewahrung der Vorlust am Schreiben für den Schluss vor; zugleich hält er diesen sexuellen Akt am Ende des Romans für konzeptuell nötig, als finale Abreaktion des desillusionierten Ulrich; der Akt, der dem Fällen des Turms gleichkommt, ist ein bildlicher Ausdruck des Schlags gegen die Zivilisation, den der Kriegsausbruch bedeutet. Der gesellschaftliche Zusammenbruch in den Tagen der Mobilmachung drückt sich in der Formel aus, welche in Musils Notizen wiederkehrt: »Sex und Krieg = Zuflucht des Zeitalters«. [II/4/68] Die Maskerade im Schlusskapitel der Entwurfsserie von 1928 verweist auf das von Michael Bachtin analysierte Prinzip der Karnevalisierung im bürgerlichen Großroman mit seiner apokalytischen Tendenz. Hier fügt sich der Mann ohne Eigenschaften mit seinem erdachten Finale ein: Figurentransvestie, allgemeine Promiskuität, die Welt – ein Bordell, ein Karneval!

Rezensionen & Reaktionen