24 Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus 13 Ländern im Osten und Südosten Europas nehmen die Leser mit auf Reisen durch Europa und erzählen von ihren Schwierigkeiten, Grenzen zu überwinden. Sie lassen sie teilhaben an ihren Streifzügen durch Wien während ihres Aufent haltes als writer in residence und reflektieren die jüngere Geschichte ihrer Länder.
Ihre Texte gewähren uns seltene Einblicke in die zeitgenössische Literatur zwischen Tirana und Tiflis, zwischen Tallin und Skopje, und sie machen Lust, mehr zu lesen und zu erfahren, was in diesen Ecken Europas die Menschen bewegt, was ihren Alltag von dem unseren unterscheidet und was uns allen gemeinsam ist.

Mit Texten von Vasile Baghiu (Rumänien), Dato Barbakadse (Georgien), Muharem Baždulj (Bosnien-Herzegowina), Rumena Bužarovska (Mazedonien), Teodora Dimova (Bulgarien), Marian Draghici (Rumänien), Mirza Fehimovic (Bosnien-Herzegowina), Tamás Jónás (Ungarn), Tengis Khachapuridse (Georgien), Marija Kneževic (Serbien), Márius Kopcsay (Slowakei), Reet Kudu (Estland), Asmir Kujovic (Bosnien-Herzegowina), Nikola Madžirov (Mazedonien), Jovan Nikolic (Serbien), Alek Popov (Bulgarien), Delimir Rešicki (Kroatien), Eginald Schlattner (Rumänien), Faruk Šehic (Bosnien-Herzegowina), Goce Smilevski (Mazedonien), Ognjen Spahic (Montenegro), Agron Tufa (Albanien), Srdan Valjarevic (Serbien), Maja Vidmar (Slowenien)

Unterwegs

Erfrischender Blick von außen auf Österreich (Reinhold Reiterer in "Kleine Zeitung" 18.11.2010)

Ich erinnere mich an alles, was mit Büchern geschieht. Ich erinnere mich sogar daran, auf welche Unterhose die New Yorker Trilogie zu liegen kam, als ich packte. Gerade deshalb konnte ich keinen gültigen Grund finden, weshalb ich jetzt glauben sollte, dass ich es gewesen wäre, der Bernhards Beton offen auf dem Bord zurückgelassen hatte, und dass es nicht gerade sie gewesen war, die es aufgeschlagen hatte – die Fliege. Vorsichtig schob ich den Stuhl näher. Das Geschöpf, stehengeblieben neben einem Großbuchstaben zu Beginn der siebenundfünzigsten Seite, glättete hingebungsvoll seine Flügel. Noch nie hatte ich eine Fliege auf einem Buch gesehen. Mehr noch, noch nie zuvor hatte ich diese beiden Dinge zusammen gedacht.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und näherte die Augen dem nächtlichen Besucher. Da begann das kleine Wunder zu meiner großen Überraschung die Zeilen entlang zu wandern, wobei es an Stellen mit Komma oder Punkt in seiner Wanderung sogar verhielt. Zuerst in den eigenen Bart murmelnd, las ich immer lauter: »Und wenn ich gehe, werde ich dieses Land verlassen, dessen Städte stinken und dessen Einwohner korrupt sind. Ich werde dieses Land verlassen, in dem die gewöhnliche Sprache und der seelische Zustand derjenigen, die diese gewöhnliche Sprache sprechen, anormal geworden sind. Ich werde dieses Land verlassen, das sagte ich mir, während ich auf dem Eisenstuhl sitze, in dem Raubtiere die einzigen Rollenvorbilder sind.« Die Fliege war stehengeblieben. Ihre Wahl verblüffte mich. Es ist wirklich nicht schwer, ein Buch von Bernhard aufzuschlagen und eine derartige Passage zu finden, das geht ohne jede Mühe. Aber im Roman Beton war dies buchstäblich die einzige Stelle, an der er seine Übellaunigkeit so explizit gegen den Staat und seine Menschenaubfeuerte.
[Aus: Ognjen Spahic, Die Fliege]