Hinter alphabetisch gereihten Kolumnen, die ihr Entstehen beliebigen Alltagsereignissen zu verdanken scheinen, verstecken sich poetische Miniaturen, die Gegensätzliches und Widersprüchliches verweben und erfahrbar machen. Im Mittelpunkt, so formuliert es Ivan Lovrenovic in seinem Nachwort, steht das infernale Thema des letzten Jahrzehnts des zweiten Jahrtausends: das der Grenzen und Entzweiungen. Aber die Poesie der Texte, die eine außergewöhnliche lyrisch-journalistische Doppelbegabung verraten, transzendiert das Trennende. Sie öffnet Fenster, zwingt zu schmerzhaften Rückblicken, gewährt überraschende Ein- und Ausblicke.

Ein bosnisches Alphabet

Mit einem Nachwort von Ivan Lovrenovic

Mile Stojic, geboren 1955 in Dragicina (Herzegowina). Lyriker und Essayist. Abschluss des Studiums der jugoslawischen Literaturen in Sarajevo. Bis zum Ausbruch des Krieges Mitarbeit in verschiedenen bosnischen Literatur- und Kulturzeitschriften, danach Lektor am Institut für Slawistik der Universität Wien (seit 1993), Kulturredakteur bei »Tjednik« in Zagreb (bis 1998) und »Dani« in Sarajevo. Zahlreiche Lyrikbände, zuletzt »Prognane elegije« (Vertriebene Elegien, Zagreb 1996).

... Das Alphabet, als literarische Vorgabe von Prosasammlungen verwendet, ist eine zwanglose und anspruchsvolle Form zugleich. Jetzt hat es der 1955 geborene Lyriker Mile Stojic unternommen, politische Glossen, komprimierte kleine Studien, luftige Feuilletons zu einem 'bosnischen Alphabet' von A wie Andric bis zu Z wie Zlato zu sammeln. Das Gold (zlato) findet er im kroatischen Wörterbuch nicht gleich neben dem Geld wie im deutschen, sondern nahe beim Verbrechen (zlocin), was ihn zu einigen interessanten Gedankenspielen veranlasst. Gedankenspiele, Versuche, dem Denken probeweise eine andere Richtung zu geben, sind die meisten seiner Eintragungen, die einst als Beiträge für eine Zagreber Zeitung geschrieben wurden. Stets erhellend, mitunter erschütternd ist, was Stojic vom 'Genozid' bis zum 'Wiederaufbau', von 'Demokratur' bis 'Plünderung' über sein Land zu erzählen weiss ... (NZZ)

... Sprache bewahre Erinnerung, notiert Mile Stojic in seiner Wiener Mansarde. In der 'Schatzkammer' des jugoslawischen Gedächtnisses wird man auf vieles stoßen ... (Marica Bodrozic, Der Bund)

... Dieser Tage sind dreihundert Jahre vergangen, seit Eugen von Savoyen seinen Feldzug auf den Balkan unternommen hat. Wo ist der Balkan? Die Kroaten meinen, seine Grenze verlaufe an der Save, die Slowenen glauben, er beginne an der Sotla, während die Österreicher behaupten, die Grenze zum Balkan bilde der Wiener Südbahnhof. Wir aus dem Süden sehen diese Einteilung anders, wir glauben, dass sich dieser Grenzstein genau in jedem einzelnen unserer Dörfer befindet, aber der Wiener Südbahnhof ist in jedem Fall für alle von uns der erste Punkt, von dem aus wir ehrfürchtig in das uns seit je ferne und unzugängliche Europa der Pracht und der Kultur aufbrechen. Das erste Bauwerk, das wir beim Verlassen des Zuges erblicken, ist Schloss Belvedere. Dieses Meisterwerk europäischer Barockkunst hat sich Prinz Eugen von Savoyen als Sommersitz errichten lassen. Den Namen Belvedere (ital. ?Schöne Aussicht?) gab er ihm, weil sich von hier ein phantastischer Blick auf das Weichbild des alten Wien öffnete. Der französische Adlige ist einer der Begründer des Habsburgerreichs, und die österreichische Geschichte feiert ihn als unerschrockenen Helden und verdienten Ritter. Seine Soldaten, bekannt für militärische Schläue und unvorstellbare Grausamkeiten, ließen hinter sich nur Gräber und Asche zurück. Genau vor drei Jahrhunderten hat Prinz Eugen Sarajevo in Brand gesteckt und zerstört ...