Mit seinem (ersten) Roman ›Die Fremden‹ (Tujci, 1901) führt uns der damals fünfundzwanzigjährige Ivan Cankar nach Wien. Ein slowenischer Bildhauer, Pavle Slivar, der unter Entbehrungen an der Wiener Akademie studiert hat, sieht sich vor der Verwirklichung seiner künstlerischen Träume, als sein Entwurf für ein Denkmal in Ljubljana preisgekrönt wird. Dem Freudentaumel folgt die bittere Erkenntnis, dass dem Preis kein Auftrag folgen wird. Slivar kehrt nach Wien zurück, um hier die Kunst zu schaffen, die daheim angeblich niemand braucht. Für seine der Nacht abgerungenen Entwürfe findet er jedoch keinen Abnehmer. Als er auch noch die Brotarbeit verliert, gerät sein Leben aus den Fugen …
Dieser meisterhaft erzählte, psychologisch fein motivierte Roman, der das Schattendasein der Wiener Vorstadt-Bohème thematisiert, reflektiert die Situation des slowenischen Künstlers Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Forderung nach einer nationalen Kunst die slowenische Öffentlichkeit in einem Maß dominierte, dass schon die Orientierung eines Künstlers am internationalen Geschehen als unpatriotisch und subversiv gebrandmarkt wurde.

Roman

Fremd der slowenischen Heimat – fremd in Wien

Ivan Cankar (1876–1918) lebte als freier Schriftsteller in Slowenien und Wien-Ottakring. Er ist der bedeutendste Vertreter der slowenischen Moderne. Sein Gesamtwerk umfasst 30 Bände.

Psychologisch genau, durch innere Monologe, Traumwiedergaben und sehr einfühlsame Beschreibungen schildert Cankar seinen tragischen Helden. Diese starke Innenperspektive ergänzt er durch eine gesellschaftliche Einbettung, u.a. durch Gespräche über die Rolle der Kunst in Akademikerkreisen sowohl in Ljubljana und Wien. (...) Der Roman erscheint erstmals in deutscher Sprache - ein Verdienst des Klagenfurter Drava-Verlags, der seit Mitte der 90er Jahre eine große Werkausgabe von Ivan Cankar herausgibt und damit zur längst fälligen Wiederentdeckung eines großartigen Schriftstellers von Weltrang beiträgt. (Deutschlandradio Kultur)

Er war müde; die faulen Gedanken lagen ihm dumpf im Kopf, die Lider brannten ihn. Auch seine Mitreisenden, die davor laut gewesen waren, verstummten; nur hie und da sprach jemand ein verschlafenes Wort, ohne auf Antwort zu warten. Der Zug hatte den Semmering erreicht, er rastete eine Minute, und dann ratterte er freudig los, eilte in dreisten Kurven talab.
Nacht war, als Slivar auf dem Wiener Bahnhof ausstieg. Durch die erhellten, belebten Gassen ging er langsam stadteinwärts, er spürte die Beine fast nicht: das volle Wogen des Großstadtlebens trug ihn wie auf Händen, er schwamm ohne Mühe, kaum bewusst. Er kam auf den Ring. Stolze Bauwerke standen einsam inmitten von Parks, nur hier und dort ein erleuchtetes Fenster; ein verschlafenes Auge sah aus der Nacht.
Er begab sich zu seinem Bekannten, dem Bildhauer Bajt. Er hatte ihm aus Ljubljana geschrieben, daß er kommt; auf dem Bahnhof sah er ihn nicht, darum machte er sich direkt zu ihm auf. Bevor er Wien verlassen hatte, hatte er ein paar Nächte bei ihm verbracht, weil er aus seiner Wohnung heraus hatte müssen, und er wollte sich später ein Zimmer und Atelier irgendwo in der Vorstadt suchen. Bajt hatte ihn damals freundlich eingeladen, sich, wenn er wiederkommt, jederzeit bei ihm zu melden, wenn er noch keine Wohnung haben sollte.
Aus den belebten, hellen Gassen der Innenstadt kam er allmählich ins vorstädtische Halbdunkel. Die Gassen waren hier gerade und breit, doch die Armut lag in der Luft; die Leute, die er traf, rochen nicht mehr nach Parfum, die Worte, die er nebenbei aufschnappte, waren nicht mehr immer so dezent, halblaut, gemessen: schroffe, heisere, unzufriedene Stimmen; aus den Wirtshäusern und Branntweinstuben toste es, wenn die Tür aufging; hie und da schrie auf der Straße eine Schar Kinder; es wirkte von weitem, als hätte sich irgendwo auf einem Dach oder in einem staubigen Park ein Spatzenschwarm versammelt.