Sie heißen Òblak, Marilena, Istvan, Leyla oder Hannes: Frauen, Männer, die in Bahnhöfen zu- oder aussteigen, in denen der Rom-Wien-Express laut Fahrplan gar nicht stehenbleiben sollte. Zufällig und flüchtig wie Reisebekanntschaften sind auch die Geschichten, die sie erzählen, und dazu so skurril und verworren, dass man unwillkürlich ihrem Zauber erliegt. Zusammen bilden sie einen vielstimmigen und vielsprachigen Redefluss, in den sich dann und wann auch andere einmischen, Rainer Maria Rilke zum Beispiel oder Elias Canetti.
Die zwölf Geschichten sind lose untereinander verwoben, eine verweist auf die andere. Gemeinsam ist ihnen der Ort der Handlung – ein Zugabteil auf der Strecke zwischen Udine und Bruck an der Mur – und das Thema, um das jede von ihnen in der einen oder anderen Weise kreist: Grenzen und Grenzräume, als Niemandsland erlebt oder als Schwellen, über die man in eine andere Welt eintritt, Grenzen, die im Zuge der europäischen Integration in Identitätskrisen geraten, und solche, die sich erst recht als undurchdringliches Dickicht erweisen.

12 Grenzgeschichten und eine

Kenka Lekovich, geb. 1963 in Rijeka/Fiume, lebt seit 1990 in Triest, arbeitet als freelance-Journalistin sowie in verschiedenen Sozialprojekten. Kenka Lekovich versteht sich als scrittrice di confine, als Grenz-Schriftstellerin; Mitwirkung am Projekt »Poetik der Grenze« (Graz, Kulturhauptstadt 2003); Stadtschreiberin von Graz 2004/2005. Buchpublikation: La strage degli anatrocoli (1995); in deutscher Übersetzung: Kurzprosatexte, Gedichte, Essays, Hörspiele und dramatische Skizzen in Anthologien und Zeitschriften.

Die Grenz-Schriftstellerin Kenka Lekovich hat ihren Zauber über die Bahnstrecken des Alpen-Adria-Raumes gelegt... "Der zug hält nicht in Ugovizza", er muss den Fahrplan zwischen Wien und Rom einhalten... Ohne Anfang und Ende fließt eine Erzählung in die andere ein und so lässt die Autorin aus einem Niemandsland etwas zauberhaftes Gemeinsames entstehen. ("Die Brücke" Sommer 2010)

Alle meine Mädchen, unabhängig von Farbe, Rasse, Alter oder Religionszugehörigkeit, wollten von Beginn an und mit geradezu manischer Bestimmtheit ein Kind von mir. Ich will ein Kind von dir, sagten sie beinahe auf der Stelle, schon am vierten oder fünften Tag sagten meine Mädchen zu mir: Hannes, ich will ein Kind von dir. Leyla genauso wie Hanna, wie Margot, wie Helga, wie Simona, wie Natascha, wie Mary-Jo. Hannes, ich will ein Kind von dir, verkündete die eine mitten in der Nacht, Hannes, ich will ein Kind von dir, weckte mich die andere am Morgen, mit der nächsten betrachtete ich den Sonnenuntergang und sie sagte zu mir: Hannes, ich will ein Kind von dir - ich floh türenschlagend aus dem Haus und die übernächste schrie mir hinterher: Hannes, ich will ein Kind von dir.
Es spielt keine Rolle, welches meiner Mädchen es war, das mir den Satz sagte, diesen Satz: »Hannes, ich will ein Kind von dir« - in meinen Ohren wurde er von allein zu: »Hannes, ich will ein Kind gegen dich.« Hannes, ich will ein Kind von dir, sagte zum Beispiel Simona, und ich verstand auf der Stelle: Hannes, ich will ein Kind gegen dich.
Sie wollten nicht nur ein Kind gegen mich, wie ich überzeugt war, darüber hinaus wollten mich alle erneuern, verändern, aus mir einen Mann machen, mich anspornen erwachsen zu werden, einige wollten mir helfen gemeinsam zu wachsen. Hannes, sagten sie in diesem Fall, ich will der helfen gemeinsam zu wachsen. Alle wollten sie den wahren Hannes zum Vorschein bringen, den wahren Hannes erscheinen lassen, den wahren Hannes hervorholen, den wahren Hannes erstrahlen lassen, ich leuchten lassen, ihn abheben lassen, den wahren Hannes endlich in die Umlaufbahn katapultieren. Kaum erblickten sie mich, hatten alle schon eine Mission.