Am Totenbett ihrer behinderten älteren Schwester schreitet Enza, die Protagonistin dieser Erzählung, noch einmal die wichtigsten Etappen ihres Lebens ab. Nach ihrer einsamen Kindheit in einer äußerst gefühlsarmen Umgebung findet sie eine Anstellung in einem heruntergekommenen Grand Hotel, wo sie den Sohn der Besitzerin kennenlernt, heiratet, drei Kinder zur Welt bringt und zur Hoteldirektorin aufsteigt. Ihr Leben wird aber nach wie vor von der mangelnden Liebe ihrer Mutter, die in den 30er Jahren aus Kalabrien nach Südtirol gekommen war, und einer extremen Abhängigkeit von dieser bestimmt. Die Mutter bricht kurz vor ihrem Tod das Schweigen. Ihr Geständnis bringt den Wendepunkt in Enzas Leben, ihr ohnehin schon fragwürdiges Gleichgewicht und ihre gesamte Identität kommen endgültig ins Wanken. Ohne dass sie davon gewusst hätte, war ein Ereignis aus der NS­Besatzungszeit in Südtirol bestimmend für ihr Leben gewesen.
Die einfühlsame Erzählung eines Lebens, das die Kriegsleiden bewusst und unbewusst mit indie Nachkriegszeit nimmt. Ada Zapperi Zucker zeichnet das Porträt einer Frau, deren Selbstanalyse am Ende doch zur Versöhnung führt.

Ada Zapperi Zucker, 1937 in Catania geboren, lebt seit Jahren in Deutschland. Studierte Gesang und Klavier in Rom und Wien. Mitarbeit am "Dizionario Biografico degli Italiani" des Istituto Treccani und an anderen Enzyklopädien. 2007 Veröffentlichung der ersten Erzählbandes "La scuola delle catacome".

Ein tief aufwühlendes Buch, spannend von der ersten bis zur letzten Seite, in dem es um extreme existenzielle Konflikte geht. (Carl Wilhelm Macke in Bücherprofile 3/2010)

[...] ein verinnerlichter Stil voller zarter Schattierungen an Stelle von plakativen Farben, [...] ein Vokabular, nicht effekthaschend, das auf Ausgeglichenheit Wert legt. Ein Stil, ganz im Dienste einer stillen Analyse der Gefühle, der aber langsam für sich einnimmt. Die Geschichte einer Frau, deren Leben aus einem Akt der Gewalt entstanden ist [...]. (F. Zamboni, "Alto Adige")

Ada Zapperi Zucker, in Catania geboren, seit Jahren in Deutschland lebend, hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das als Entdeckung zu loben und feiern ist. (www.fixpoetry.com, dl 1.9.20011)

Bevor Enza Golin das Haus verließ, warf sie noch einen Blick ins Zimmer ihrer Schwester: Im Bett schien sie zwischen Kissen und Leintuch zu verschwinden, so bleich und winzig war sie. Rita lag, die Augen geschlossen, still und unbeweglich; vielleicht hatte sie nicht einmal ihre Anwesenheit wahrgenommen. Der Mund halb geöffnet, der Atem schwer und die geschlossenen Augen tief in die Augenhöhlen eingesunken, die hagere Brust, die sich stockend hob, die Hände am Leintuch mit letzter nervöser Anstrengung festgeklammert, wie in einem instinktiven Reflex, allein der Finger, ohne Beteiligung ihres Willens, waren Anzeichen eines langen, quälenden Todeskampfs. Enza Golin hielt sich nicht länger als notwendig auf. Sie wollte diesem letzten Kampf nicht beiwohnen.
Beim Hinausgehen überfiel sie ein tiefes Gefühl der Müdigkeit, eine Art Resignation, der sie keinerlei Widerstand entgegensetzen konnte. Obwohl sie gesund und sehr vital war, äußerte ihr Körper Zeichen des Unwohlseins, der Ablehnung: Diese Person zu sehen erschütterte noch immer ihr Gleichgewicht, entzog ihr jene Energie, die es ihr immer ermöglicht hatte, trotz allem weiter zu machen.
Sie ging nicht sofort ins Hotel. Gefolgt von Wolf, ihrem Schäferhund, setzte sie sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Der kleine Dorffriedhof, zu dieser Stunde verlassen und traurig wie sonst nie, erwartete sie. Der Herbst bot dort seine rauesten Farbtöne und der Wind verstärkte die Trostlosigkeit. Sie blieb neben dem Grab ihres vor einigen Monaten verstorbenen Mannes stehen.
»Sie liegt im Sterben«, sagte sie mit lauter Stimme, während sie die leicht welken Blumen betrachtete, die jemand – vielleicht ihre Tochter – vorbeigebracht hatte. Sie selbst pflegte den Toten nie Blumen zu bringen, sie konnte keinen Sinn darin finden: Warum Blumen bringen, wenn die Toten sie ja doch nicht genießen konnten?